Der deutsche Handball-Nationalspieler Tobias Reichmann spielt in Kielce, wo ihm Polnisch die größten Sorgen bereitet. Doch jetzt freut er sich erst einmal auf die EM in seiner neuen Heimat.

Sport: Joachim Klumpp (ump)

Stuttgart - Die Handball-Europameisterschaft wird von Samstag an in Polen ausgetragen – und dennoch hat der deutsche Nationalspieler Tobias Reichmann ein Heimspiel. Ein halbes zumindest. Denn der Rechtsaußen verdient sein Geld inzwischen im Nachbarland, bei KS Vive Kielce. Das ist keine Laufkundschaft, sondern ein europäisches Spitzenteam. Nicht zuletzt dank des finanziellen Engagements eines holländischen Unternehmers aus der Recyclingbranche. Bertus Servaas pumpt seit 2002 nicht nur sein Geld in den Verein, sondern schaut auch regelmäßig vorbei. „Er ist bei jedem Heimspiel und sehr kommunikativ“, sagt Reichmann zu dem persönlichen Kontakt mit dem Niederländer.

 

Der klappt denn auch besser als mit einigen Teamkollegen. Die Sprache ist das größte Problem bisher. „Da bin ich auch von mir selbst etwas enttäuscht“, sagt er nach anderthalb Jahren in der Fremde. Und zeigt plötzlich Mitgefühl für ehemalige Ausländer in der Bundesliga, die sich mit der Verständigung schwer taten. „In solchen Fällen würde ich künftig sicher anders urteilen.“ Toleranter.

Den Wechsel nicht bereut

Dennoch hat er den Wechsel im Sommer 2014 von Wetzlar nicht bereut. „Ich wollte einfach mal etwas anderes erleben“, sagt der Rechtsaußen zu der Luftveränderung, die im Handball eher ungewöhnlich ist.

Schließlich gilt die Bundesliga nach wie vor als stärkste Liga der Welt. Doch andere Nationen haben inzwischen aufgeholt. Zumindest in der Spitze: Franzosen, Ungarn – auch die Polen. „Volleyball ist vielleicht die Nummer eins, aber auch Handball ist sehr populär“, sagt Reichmann zum Stellenwert des Sports und liefert ein Beispiel in Zahlen. In der Vorbereitung kamen zu einem Freundschaftsspiel gegen das Topteam von Paris St. Germain 15 000 Zuschauer. In Krakau war das, die eigene Halle fasst nur 4200 Besucher, ist in der Champions League aber regelmäßig ausverkauft, und auch sonst zu 80 bis 90 Prozent gefüllt, so Reichmann. Das sind Verhältnisse wie in der Bundesliga.

Zweimal die Woche wird gepaukt

Auch der Tagesablauf unterscheidet sich kaum von dem in Deutschland – von dem Sprachkurs abgesehen, zweimal die Woche werden Vokabeln gepaukt, denn die Amtssprache in der Halle ist Polnisch, auch wenn der Trainer Talant Dujshebaev heißt und ein Russe mit spanischem Pass ist. Vor zwei Jahren hat er Bogdan Wenta abgelöst, den ehemaligen deutschen Nationalspieler, der ins Management des Vereins wechselte, und deshalb als Dolmetscher auf dem Feld ausfällt. Wobei der aktuelle Coach seine ganz eigene Vorstellung von Spielpraxis hat. Der Kader ist auf jeder Position doppelt stark besetzt, und jeder Spieler kommt pro Halbzeit 15 Minuten zum Einsatz. Reichmann hat sich längst an den Konkurrenzkampf – mit Ivan Cupic (ehemals Rhein-Neckar Löwen) – gewöhnt und urteilt: „Es hat mehr Vor- als Nachteile.“

Bei der Nationalmannschaft gelten andere Kriterien: die Leistung. Und da hat Reichmann sicher keine schlechten Karten, nachdem der etatmäßige Rechtsaußen Patrick Groetzki wegen einer Verletzung ausfällt. Auch wenn in dem Melsunger Johannes Sellin noch ein ernsthafter Rivale nachnominiert wurde. Der Bundestrainer Dagur Sigurdsson jedenfalls vertraut seinem Akteur: „Reichmann spielt bei einem europäischen Spitzenclub, da mache ich mir keine Gedanken“, sagt der Isländer.

In Polen wird gut bezahlt

Und was sagt Reichmann? „Ich bereue es nicht, den Schritt gemacht zu haben und nach Polen gegangen zu sein“, erzählt der gebürtige Berliner, der sich zwischenzeitlich auch beim Rekordmeister THW Kiel versucht hatte, aber nicht wie gewünscht zum Zuge kam. Auch finanziell „ist das sicher ein Anreiz“, macht Reichmann keinen Hehl daraus, dass bei so einem Spitzenklub in Polen, bei dem noch etliche andere frühere Bundesligaspieler unter Vertrag stehen, auch für deutsche Verhältnisse gut gezahlt wird. „Zumal man nicht vergessen darf, dass die Lebenshaltungskosten dort niedriger sind.“

Dafür muss man den einen oder anderen Nachteil in Kauf nehmen, zum Beispiel bei der Krankenversorgung, so der 27-Jährige. Aber die Belastung in der Liga ist nicht so hoch, weil der Fokus des Clubs sowieso eindeutig auf der Champions League liegt, in der Kielce im Vorjahr beim Final Four in Köln Dritter wurde. „Das ist unser Minimalziel“, sagt Reichmann vor der EM – meint aber nur die Vorrundengruppe. Zum Weiterkommen würde Platz drei reichen.