Die Fußballer von Hannover 96 stehen auf Platz drei der Bundesliga, die Handballer der TSV Hannover-Burgdorf thronen gar an der Spitze. Auch dank Spielern aus Stuttgart und der Region.

Stuttgart - Die Kritik klingt hart: Leidenschaftslos, unpersönlich, langweilig, provinziell – so sei Hannover, hieß es schon in Reiseberichten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bis heute haben sich diese Vorurteile über das angeblich nicht vorhandene Flair in der niedersächsischen Landeshauptstadt gehalten – Kai Häfner muss grinsen, wenn er damit konfrontiert wird: „Hannover wird unterschätzt, diesen grauen Schleier über der Stadt gibt es nicht“, sagt der aus Schwäbisch Gmünd stammende Handball-Nationalspieler von der TSV Hannover-Burgdorf. „Hier ist immer etwas geboten.“

 

Martin Harnik sieht das ähnlich. Der österreichische Fußball-Nationalspieler wechselte im vergangenen Sommer nach sechs Jahren beim VfB Stuttgart zu Hannover 96 und sagt: „Früher habe ich auch gedacht, dass Hannover nur eine Messestadt ist und sonst nicht viel zu bieten hat. Hier gibt es aber eine tolle Infrastruktur, viele Seen und viele Grünflächen.“

Vor allem aber im Sport hat Hannover derzeit einiges zu bieten. Kai Häfners Handballer stehen mit 8:0 Punkten an der Tabellenspitze. Das kann bei einem entsprechenden Spielplan schon mal passieren. Doch der Vorjahreselfte musste zweimal bereits gegen die Großen der Liga ran – und drehte ihnen eine lange Nase: Dem 32:29 gegen die SG Flensburg-Handewitt folgte der 31:29-Auswärtscoup in Kiel. Und die Fußballer? Belegen nach drei Spieltagen mit sieben Punkten einen fast schon sensationell anmutenden dritten Platz.

Hannover ist in diesen Wochen vielleicht so etwas wie die heimliche Sporthauptstadt Deutschlands. Eine völlig überraschende Entwicklung – weil die zwei großen Clubs der Stadt vor gar nicht allzu langer Zeit noch am Boden lagen. Mit den aktuellen Höhenflügen konnte niemand rechnen.

Hannovers Handballer waren einst das Gespött von Handball-Deutschland

Die TSV Hannover-Burgdorf war in der vergangenen Rückrunde das Gespött von Handball-Deutschland: 16 Spiele hintereinander blieb das Team in der Rückrunde sieglos. Und die Fußballer von 96? Waren vor kurzem auch am Ende. Abstieg aus der ersten Liga im Sommer 2016. Neunfang in der zweiten. Jetzt, im Herbst 2017 gibt es wieder einen Neuanfang – mit einem Traumstart als Aufsteiger im Fußball-Oberhaus. Wenn beide Teams so weitermachen, werden sie sich bei der Sportlergala der Stadt am Ende des Jahres ein Kopf-an Kopf-Rennen liefern, wenn es um den Titel „,Mannschaft des Jahres“ geht.

Warum beide Teams derzeit so erfolgreich sind, hat verschiedene Gründe. Bei den Handballern reagierten Fans, Umfeld und Medien recht gemäßigt auf die rekordverdächtige Negativserie der Rückrunde. „Woanders, zum Beispiel in Göppingen, wäre da der Teufel los gewesen“, sagt der neue TSV-Kapitän Kai Häfner, der den Fußballerkollegen von Hannover 96 dankbar ist: „Sie nehmen uns viel ab. Die Euphorie um den Aufstieg in die Bundesliga überlagerte in dieser Zeit vieles“, sagt der Linkshänder. Jetzt stehen die Handballer plötzlich glänzend glänzend da – was viel mit dem Trainer zu tun hat. Carlos Ortega, erster spanischer Coach seit 18 Jahren in der Handball-Bundesliga und Nachfolger des Schwaben Jens Bürkle, drückte gemeinsam mit dem Assistenten Iker Romero den Reset-Knopf. Unbelastet sorgt das Duo mit frischen taktischen Ideen (kreisläuferorientierter im Angriff, offensiver in der Abwehr) für neue Impulse beim TSV.

Das machte auch André Breitenreiter bei 96. Seit März dieses Jahres ist er in seiner niedersächsischen Heimat im Amt, führte das Team zum Aufstieg – und ist seit seinem Dienstbeginn in Hannover ungeschlagen. Aus guten Gründen. „Die Defensive ist unser Prunkstück“, sagt der Stürmer Martin Harnik, für den aber ein anderer Punkt den Erfolg bei 96 ausmacht. „Wir sind ein verschworener Haufen, der auch außerhalb des Platzes viel Zeit miteinander verbringt“, sagt der Ex-Stuttgarter. „Das habe ich so lange nicht erlebt. Der Trainer muss die mannschaftliche Geschlossenheit auf und neben dem Platz nicht predigen, wir leben das selbst vor.“ Das, ergänzt Harnik, sei auch ein Verdienst der Kaderplaner, die eine Mannschaft zusammengestellt hätten, die charakterlich top sei. Wo das alles noch hinführt? „Wir wollen so schnell es geht die magische 40-Punkte-Marke knacken und dann schauen wir, wie viele Spieltage dann noch übrig sind“, sagt Harnik.

„Man verkauft sich hier unter Wert“, sagt Martin Harnik

Auch die Hannoveraner Handballer sind versiert darin, die Kugel flach zu halten. So betont der TSV-Geschäftsführer Benjamin Chatton, dass die aktuelle Tabelle nur eine Momentaufnahme sei: „Es ist utopisch zu glauben, dass wir da oben bleiben.“ Chattons Wort, so viel ist klar, hat Gewicht. Der 36-Jährige gilt in der Branche trotz seines noch recht jungen Alters als einer der pfiffigsten Macher – auch, weil er gerne mal über den sportlichen Tellerrand hinausblickt. Seit 1. Februar ist Chatton gleichzeitig auch Geschäftsführer der Arena Hannover GmbH. „Wir sind eine Stadt ähnlich wie Stuttgart. Vielleicht nicht mit der gleichen Wirtschaftskraft, aber auch mit zwei attraktiven Spielstätten“, sagt Chatton. 13 Heimspiele der Handballer werden in der Tui-Arena ausgetragen (Fassungsvermögen 9800 Zuschauer), die restlichen vier in der Swiss Life Hall (4100 Zuschauer). Der Schnitt im vergangenen Jahr lag bei 5116. Die Handballer sind glücklich darüber, dass sie sich seit dem DEL-Ausstieg von Eishockey-Club Hannover Scorpions (wie die Hannover Indians nur noch in der Oberliga am Puck) als klare Nummer zwei im Sport in der 530 000-Einwohner-Stadt positioniert haben – auch dank der Unterstützung aus der Stadt.

„Wir werden in Hannover angenommen, auch wenn der Niedersachse nicht sofort in kollektive Euphorie verfällt“, sagt Chatton, was Martin Harnik seinerseits bestätigen kann: „Von einer großen Euphorie würde ich gerade nicht sprechen, aber die Leute hier sind einfach sehr zufrieden und glücklich, sie haben in sportlicher Hinsicht ja zuletzt auch einiges mitmachen müssen.“

Auch Häfner und Harnik selbst sind glücklich – wobei die beiden in gewissen Bereichen noch Verbesserungspotenzial sehen. „Als Süddeutscher vermisse ich in Hannover etwas die Sonne – sie könnte hier oben öfter scheinen“, sagt Häfner und lacht.

Harnik indes beschäftigen die berühmten Vorurteile, wenn es um Hannover und speziell auch die Fußballer von 96 geht. Er sagt: „Die Stadt und der Verein verkaufen sich sicherlich ein bisschen unter Wert. Beide, der Stadt und der Club, der eine große Tradition und ein enormes Potenzial hat, müssten vielleicht einen Tick selbstbewusster werden.“ Weitere sportliche Höhenflüge in Hannover könnten in dieser Hinsicht sicher nicht schaden.