Das Zahnradbahngespräch mit Prominenten aus dem Sport: auf dem Weg nach oben erzählen sie von ihren Karrierehöhepunkten, auf dem Weg nach unten von Tiefpunkten – heute mit Michael Kraus: ein gläserner Sportler, der daran fast zerbrochen wäre.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Der Mann hält einen auf dem Laufenden. „Leider staut sich der Verkehr auf der B 10. Verspäte mich deshalb etwas. MfG, M. Kraus.“ 15 Minuten später kommt von M. Kraus die nächste SMS: „Bin jetzt da, suche nur noch einen Parkplatz.“ Und dann spaziert Michael Kraus, den im Handball alle nur Mimi nennen, über den Marienplatz – bereit für das Zahnradbahngespräch. In dem plaudern prominente Sportler auf dem Weg nach Degerloch und wieder zurück, über Höhe- und Tiefpunkte in ihrer Kariere.

 

„Früher wäre ich einfach nur zu spät gekommen – ohne irgendeine Erklärung“, sagt Kraus mit einem sympathischen Lächeln. Von seinem Image als unzuverlässiger Lausbub hat er jetzt aber wirklich genug. „Ich bin erwachsen geworden“, sagt der 31 Jahre alte Michael Kraus, der am 9. September geheiratet hat und im Oktober Vater wird. Doch schon zuvor wurde das Leben des Michael Kraus komplett auf den Kopf gestellt. Und zwar als diese Meldung durch die deutschen Medien ging: Handballstar Mimi Kraus verstößt gegen die Antidopingregeln und wird gesperrt.

Doch zuerst geht es beim Zahnradbahngespräch ja um die Höhepunkte in einer Sportlerkarriere. Und so soll es bleiben. Abfahrt! Und wie auf Kommando fängt der Bundesliga-Handballer an, von Frisch Auf Göppingen zu erzählen. Zunächst gibt es eine mitreißend vorgetragene Geschichte zu einem mitreißenden Ereignis. Es geht um die Handball-Weltmeisterschaft 2007 und um den deutschen Titelgewinn im eigenen Land. „Ich dachte, nur der Fußball kann eine solche Begeisterung entfachen“, erinnert sich der Spielmacher, den vor dem Turnier niemand auf der Rechnung hatte. Während der WM-Tage wurde Deutschland zur handballverrückten Nation und Michael Kraus zum Star, der entscheidenden Anteil am Triumph hatte und ins Allstar-Team gewählt wurde. Über seine eigene Leistung spricht Kraus aber nur nebenbei. „Uns hat der Teamgeist stark gemacht, wir hatten sicher nicht die besten Einzelspieler.“

Ein süßer Abschied vom HSV Hamburg

Ebenso wenig hebt Michael Kraus dann seinen eigenen Beitrag am zweiten ganz großen Höhepunkt der Karriere hervor: den Gewinn der Champions League mit dem HSV Hamburg im vergangenen Jahr. War Kraus in Göppingen und später in Lemgo die zentrale Figur im Spiel, lief es in Hamburg für ihn – vorsichtig formuliert – lange Zeit eher durchwachsen. Bis zum Champions-League-Finale in Köln gegen den hochfavorisierten FC Barcelona. Erst in der zweiten Halbzeit kam Kraus ins Spiel, um den HSV dann mit insgesamt sechs Toren zunächst in die Verlängerung und dann zum Titel zu schießen. „Eine verrückte Geschichte“, sagt der Eislinger, „erst schlagen wir im Halbfinale den Titelverteidiger Kiel und dann auch noch Barcelona.“ Ein süßer Abschied vom HSV Hamburg, den er verlässt, um wieder bei Frisch Auf Göppingen zu spielen.

Privat war die Zeit in Hamburg für Michael Kraus übrigens ein einziger Erfolg. Auf dem Abendgymnasium macht er nicht nur das Abitur nach, sondern lernte dort auch noch gleich seine Frau Isabel kennen. „Ich saß eine Reihe hinter ihr und musste wirklich viele Witze machen, bis sie Notiz von mir nahm und dann endlich auch mal lachte.“

Michael Kraus lacht auch, als der Wendepunkt der Zahnradbahnfahrt in Degerloch erreicht ist. Gerade hatte er noch erzählt, wie er es als 17-Jähriger zum „Bravo“-Boy des Jahres gebracht hatte. „Einigermaßen unverschuldet“, wie er meint, nachdem Mimi nur seiner Zwillingsschwester Alena zuliebe am Nachwuchs-Model-Wettbewerb teilnahm. „Meine Schwester hat sich nicht getraut, alleine mitzumachen.“ Während die im Mädchen-Wettbewerb auf dem zehnten Platz landete, wurde ihr Bruder bei mehr als 25 000 Teilnehmern Erster. „Das Showgeschäft musste aber ohne mich auskommen, weil ich gerade bei Frisch Auf meinen ersten Profivertrag unterschrieben hatte“, sagt Michael Kraus und grinst.

Auf der Fahrt zurück zum Marienplatz ist jetzt aber Schluss mit lustig. Es geht steil bergab. Dass er 2008 vom Bundestrainer Heiner Brand für kurze Zeit aus der Nationalmannschaft geworfen wurde und sich bei einem Autounfall 2011 die Rippen gebrochen hat, das erwähnt Michael Kraus nur ganz kurz („halb so wild“), um dann auf den einen großen Tiefpunkt zu sprechen zu kommen. Auf das schwarze Loch, sozusagen. Darin drohte der oft als Sonnyboy beschriebene Kraus zu versinken, als er die Nachricht erhielt, einmal zu viel gegen die Meldepflicht der deutschen Antidopingagentur Nada verstoßen zu haben.

Die Existenzangst raubt den Schlaf

„Mir hat es den Boden unter den Füßen weggezogen, ich konnte nicht mehr schlafen, weil ich Existenzängste hatte“, so beschreibt Kraus seinen Zustand angesichts einer drohenden, möglicherweise mehrjährigen Sperre, die wohl das Karriereende bedeutet hätte

Was genau war geschehen? „Mir wurden drei Meldeverstöße zur Last gelegt“, sagt Kraus, der als Handball-Nationalspieler strengste Richtlinien zu befolgen hat. So muss er drei Monate im Voraus schriftlich darüber Auskunft geben, welche privaten und sportlichen Termine bereits feststehen. Der Terminplan muss außerdem tagesaktuell ergänzt werden, damit der Sportler immer und überall für eine unangekündigte Dopingprobe anzutreffen ist.

„Den Terminplan habe ich geringfügig zu spät abgegeben, das war Meldeverstoß Nummer eins“, sagt Kraus. Als er später in seinem neubezogenen Haus in Wernau einem Kontrolleur nicht die Tür öffnet, bedeutet das Meldeverstoß Nummer zwei. Verstoß Nummer drei wird aktenkundig, als Kraus nach einem Bundesligaspiel in Kiel nicht anzutreffen ist. „Ich bekam keinen Zugang zur Melde-App, um dort die Änderung meines Aufenthaltsortes rechtzeitig einzugeben, weshalb mich der Kontrolleur verpasste.“

Und plötzlich war Michael Kraus raus.

Es ist auch mit viel Fantasie nicht vorstellbar, dass Michael Kraus Kontrollen umgangen hat, um Doping zu verschleiern. Doch auf Logik und Menschenkenntnis allein kann natürlich der Kampf gegen den Sportbetrug nicht basieren: „Ich habe absolutes Verständnis für die Meldepflicht“, sagt Kraus, dem die Kontrolle aber teilweise zu weit geht. Zum Beispiel am 9. September, als er in den Meldebogen Hochzeit und Hochzeitsnacht eingetragen hatte. Die Hochzeitsnacht war dann ziemlich kurz, weil der Kontrolleur bereits am folgenden Morgen um 5.58 Uhr bei Kraus auf der Matte stand, um ihm Blut abzunehmen. Da kann man schon zu der Überzeugung kommen, dass dies nicht zwingend notwendig gewesen sein könnte.

Dopingkontrolleur als Entlastungszeuge

Zu diesem Zeitpunkt war die Sperre gegen ihn bereits wieder aufgehoben gewesen. Mit Hilfe des Anwalts Joachim Rain, der den zweiten Meldeverstoß vor der Dopingkommission des Deutschen Handball-Bundes mit einer kaputten Haustürklingel entkräften konnte. „Wir hatten einen unfertigen Neubau bezogen, da funktionierte kaum etwas“, sagt Michael Kraus. Was sich zunächst nach einer Ausrede anhört, scheint auf Nachfrage beim Kontrolleur der Wahrheit zu entsprechen. Denn der Nada-Mann vernahm vor der Tür ebenfalls kein Klingeln, was aber bei Einfamilienhäusern normalerweise offenbar der Fall ist. Der Handballverband hob die Sperre nach einem Monat gegen Michael Kraus auf, der nun wieder für Frisch Auf Göppingen am Ball ist, sich seiner Sache aber noch nicht ganz sicher sein kann. Die Nada kann noch Berufung gegen die aufgehobene Sperre einlegen.

Aber eines weiß Michael Kraus schon sicher: auf wen er sich verlassen kann – und auf wen nicht. „Von den Schulterklopfern, denen man VIP-Eintrittskarten besorgt, hat sich in der schweren Zeit niemand gemeldet. Die sollen mich jetzt aber auch in Zukunft in Ruhe lassen“, sagt er bei einem Café Cortado im Café Kaiserbau, wo das Zahnradbahngespräch traditionell in die Verlängerung geht. Viel Unterstützung habe er von seinen Eltern und den vier Geschwistern bekommen und auch gemerkt, wer zu den echten Freunden gehört: der VfB-Profi Christian Gentner zum Beispiel, der ihm angeboten hatte, öffentlichkeitswirksam für ihn Partei zu ergreifen und darauf hinzuweisen, dass das mit dem gläsernen Athleten – gegen den sich die Fußballer-Gewerkschaft übrigens erfolgreich gewehrt hat – auch zu weit gehen kann.

Und dann zeigt Michael Kraus sein Smartphone, auf dem er seinen Terminkalender erscheinen lässt. Den sieht die Antidopingagentur ein und bekommt dann zu lesen: Heute, Interviewtermin, Marienplatz, 13 bis 15 Uhr. Am Ende ist es dann doch 16 Uhr geworden.