Der Fall Harvey Weinstein weitet sich aus – zur Untersuchung männlicher Machtspiele am Arbeitsplatz und im Alltag. Es geht nicht mehr nur um die Filmwelt. Aber weibliche Filmschaffende können erhellende Beispiele liefern.

Hollywood - War das alles die Schuld Amok laufender Hormondrüsen? Angesichts des jetzt von Schauspielerinnen beschriebenen Gruselgebarens des amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein darf man das fragen. Spielte in diesem speziellen Fall permanenter Enthemmung ein Schaltfehler in der Biochemiezentrale im Männerhirn eine Rolle?

 

Früher wäre die Möglichkeit einer klinischen Störung jene Decke geworden, unter der man jede Ausweitung der Debatte erstickt hätte. Das Besondere an diesem Sexskandal aber, der Hollywood seit knapp zwei Wochen erschüttert wie keiner zuvor, ist sein Hinausspringen aus den Klatschspalten, aus den Branchenzirkeln Hollywoods. Spätestens mit dem Hashtag #metoo ist dies eine gesamtgesellschaftliche Debatte geworden.

Angestoßen hat die Aktion die Schauspeielrin Alyssa Milano, die man unter anderem aus der TV-Serie „Charmed“ kennt. Dort hat sie an der Seite jener Rose McGowan gespielt, die als eine der wütendsten Anklägerinnen Harvey Weinsteins auftritt, die offen von Vergewaltigung spricht. Milano hat Frauen gebeten, in den sozialen Netzwerken doch einfach mit den schlichten Worten me too, ich auch also, anzuzeigen, falls sie auch schon einmal Opfer sexueller Belästigung wurden.

Die Schleusen auf Twitter öffnen sich

Auch wenn dieser Aufruf zuerst unter Milanos Kolleginnen gehört wurde, schnell taten sich auf Twitter und Facebook die Schleusen auf. Noch steht die #metoo-Welle auch mit bereits zigtausenden Bekenntnissen wohl nur am Anfang. Erst allmählich drüfte sich die Aktion unter jenen herumsprechen, die sonst nicht glauben, ihr Leben hätte viel mit dem von Filmstars gemein. Aber im Gefolge der Weinstein-Vorwürfe wurde früh klar: die unzivilsierteste sexuelle Grenzverletzung ist eine Erniedirgungserfahrung, die Frauen quer durch alle Schichten und Berufe teilen. Auch noch im 21. Jahrhundert, auch in Gesellschaften mit blühendem Privatklagewesen und hehren Ideen des Indidividualschutzes.

Die Vorwürfe gegen Weinstein sind die Fäden, an denen nun ein Pullover aufgedröselt wird, der hässliche Wahrheiten verdeckte: Sexuelle Anmache ist ein fieses Machtinstrument, das jeden Tag und überall zur Anwendung kommt.

So richtig die Ausweitung des Debattenfeldes ist, so wichtig ist es, genau hinzuhören, was nun die Frauen und Männer der amerikanischen Medienwelt zum Fall Weinstein zu sagen haben. Denn noch nie ist in dieser Branche zwischen vermeintlicher Dauerfete und Milliarden-Gezocke so präzise, differenziert, persönlich und kämpferisch über Erfahrungen mit eindeutiger Körperlichkeit und verbalen Zweideutigkeiten, mit Flirt und Zoten als Machtinstrumentarium gesprochen worden.

Ungeheuerliche Fragen

Die Autorin und Produzentin Krista Vernoff ist eine erfolgreiche Frau im US-Fernsehgeschäft. Mancher würde sagen: Wäre sie ein Mann, wäre sie längst weiter. Zusammen mit ihrer Kollegin Shonda Rhimes ist sie die treibende Kraft hinter der erfolgreichen Serie „Grey’s Anatomy“. Im „Hollywood Reporter“, einem der wichtigsten Branchenorgane ihrer Zunft, hat Vernoff nun erschütternde Alltäglichkeiten am Beispiel ihrer eigenen Karriere beschrieben. In ihrem zweiten Jahr im TV-Geschäft, schreibt sie, habe sie als junge Autorin bei einer Planungskonferenz vor sechs männlichen Kollegen und einer ranghöheren Kollegin gestanden. Sie habe gerade ihre Drehbuchidee vorgetragen, als der männliche Showrunner – also der für die kreative Gesamtkonzeption Zuständige – sie unvermittelt gefragt habe, ob sie eigentlich gut im Bett sei. „Alle haben gelacht“, erinnert sich Vernoff, „manche verlegen. Und wie habe ich reagiert? Ich habe gegrinst, einen Witz gemacht, alles abgeschüttelt, mich zusammengerissen, habe meine Idee vorgetragen.“

Die Machtmasche der Anmacher

Über den Prozess der Erniedrigung macht sich Vernoff keine Illusionen. Indem sie das das Ganze als Witz abtat, habe sie abgenickt, dass es okay sei für ihren Showrunner, sich so zu benehmen. Wobei auch jedem Betrachter von außen klar sein dürfte, dass da keinem hormonell Unbalancierten unter einem akuten Testosteronschub eine abstrus deplatzierte Anmacherbemerkung entfuhr wie einem Mann, der zu schnell zu viel Cola getrunken hat, ein spontaner Rülpser. Was da ablief, war die fiese Neudefinition einer Kollegin: Die ist demnach nicht ihrer fachlichen Qualifikation wegen in der Gesellschaft von Männern, sondern ihrer möglichen Brauchbarkeit als Betthäschen wegen. Stimmt sie dieser Rolle zu, ist sie sowieso verloren. Lehnt sie diese Rolle ab, ohne das ganze Machtspiel auffliegen zu lassen, gesteht sie ein, ihre Grundqualifikation als sexspeilezug nicht zu erfüllen, also allenfalls noch eine Geduldete zu sein.

Der bessere Körperbau

Ohne polemisch zu werden, erzählt Vernoff weitere Beispiele einer toxisch sexistischen Atmosphäre, einer „Kultur der Frauenfeindlichkeit“, wie sie das nennt. Da ist etwa das überraschende Ergebnis eines Kameratests für die Pilotfolge einer TV-Serie. Eine der beiden geladenen Schauspielerinnen ist um Welten besser als die andere – der Chef des Senders aber will die weniger talentierte. Er sagt ganz offen, sie habe mehr sexuelle Ausstrahlung als die andere, den besseren Körperbau. Eine ebenfalls anwesende leitende Angestellte des Senders erträgt das nicht, interveniert. Der Senderchef rudert zurück, die Rolle wird nach Talent besetzt. Aber Vernoff hat eine böse Pointe parat: „Ein paar Wochen später wurde diese leitende Angestellte ohne nähere Begründung entlassen.“

Die in Kanada geborene, in den USA arbeitende Schauspielerin und Regisseurin Sarah Polley hat in der „New York Times“ ähnlich ruhig und erschütternd wie Vernoff Bilanz gezogen. Auch ihr geht es in diesen Tagen um die Frage, warum sie sich das alles überhaupt gefallen ließ. Sie sei es müde gewesen, als schwierig zu gelten, schreibt sie. Aber sie hat auch eine härtere Konsequenz als andere gezogen und die Schauspielerei für lange Zeit sein lassen, um der Rolle des Sexobjekts zu entkommen.

Viele andere aber weisen auf eine Ohmachtserfahrung hin, auf das Gefühl, gegen ein Netzwerk ihrer Peiniger sowieso nicht anzukommen, in der Öffentlichkeit kein Gehör oder gar Häme zu finden. Das aber ändert sich gerade: Der Fall Weinstein und der Hashtag #metoo trennen vielleicht bald eine Ära von einer anderen.