Herbert Fischer ist einer von drei Ehrenamtlichen, die die Bewohner des Hauses am Weinberg mit einer Fahrradrikscha spazierenfahren. Es ist ein Angebot gegen die Vereinsamung.

Obertürkheim - M it kräftigem Tritt bringt Herbert Fischer das gut 70 Kilo schwere G efährt ins Rollen. „Das ist ein ganz anderes Fahrgefühl als bei einem normalen Fahrrad.“ Weshalb er mit der Fahrradrikscha „zum Aufwärmen“ erst einmal das Rondell vor dem Haus am Weinberg umrundet – und damit das Interesse der Bewohner der Obertürkheimer Seniorenwohnanlage auf sich zieht. Schnell findet sich ein erster Fahrgast für einen kleinen Vormittagsausflug: Neugierig geworden, nimmt Doris Weber auf dem Vordersitz Platz. Mit geübten Handgriffen legt ihr Herbert Fischer den Dreipunktgurt um, richtet das knallgrüne Sonnenverdeck und schon geht die Fahrt los: entlang der Weinberge Richtung Untertürkheim und über die Augsburger Straße wieder zurück nach Obertürkheim.

 

Mit 80 Jahren noch topfit

Doris Weber genießt es sichtlich, dass ihr der Fahrtwind um die Nase weht. Für die 86-Jährige darf es ruhig etwas schneller sein als Schrittgeschwindigkeit. Kein Problem: „Mit dem elektrisch angetriebenen Gefährt schaffe ich bis zu 25 Stundenkilometer, ohne dass mir die Zunge aus dem Hals hängt“, sagt Herbert Fischer schmunzelnd. Seit gut einem Jahr – seit das Haus am Weinberg wie alle Einrichtungen des Wohlfahrtswerkes für Baden-Württemberg in der Region über eine Fahrradrikscha verfügt – kutschiert er ehrenamtlich Senioren durch die Gegend, strampelt sich sprichwörtlich für sie ab. „Ich werde bald 80“, erzählt er stolz, „aber ich bin noch topfit und komme eigentlich nie aus der Puste“. Schon immer sei er ein leidenschaftlicher Fahrradfahrer gewesen, „früher mit Muskelkraft, heute mit dem Pedelec“.

Unebenheiten im Gehweg

Das kommt dem einstigen Mathematik- und Physiklehrer am Wagenburg-Gymnasium jetzt zugute. Eine Fahrradrikscha zu fahren, sei nämlich gar nicht so einfach, meint der Hedelfinger. „Vor allem wenn es um die Kurve geht.“ Die starke Gewichtsverlagerung zu beherrschen, erfordert etwas Übung – jede Lenkerbewegung überträgt sich direkt auf die Plattform mit dem Gast. Auch der Gehweg entlang der Augsburger Straße hat seine Tücken: „Da sind furchtbar viele Unebenheiten drin, sodass man ordentlich durchgeschüttelt wird“, kritisiert er den schlechten Zustand.

Skepsis bei manchem Bewohner

Fünfzehn Minuten später: Für Doris Weber endet ihre erste Fahrt mit der Rikscha. „Das war ein tolles Erlebnis, das hat wirklich Spaß gemacht“, verkündet sie freudestrahlend: „Ich werde den anderen gleich davon erzählen.“ Viele Mitbewohner seien nämlich noch skeptisch, würden sich nicht so recht trauen, meint die Seniorin. Für sie steht jedoch fest: „Ich mache das gern wieder.“ Paul Ziegler, der als nächster die Rikscha besteigt, ist bereits ein Stammfahrgast. Der 99-Jährige ist nicht mehr gut zu Fuß, weshalb er die kostenfreien Spazierfahrten gerne in Anspruch nimmt. „So sieht man mal ein bisschen was von der Landschaft.“ Und er sei froh, dass er vorne sitze, witzelt er. „Da muss ich nicht selber fahren.“

Es gab noch keine Beschwerden

Doch nicht nur für die Passagiere, sondern auch für den Fahrer sind die Rikschafahrten etwas Besonderes. Die freudigen Gesichter bestärken Herbert Fischer in seinem ehrenamtlichen Engagement. Die Frage, ob schon mal jemand unzufrieden mit der Fahrt gewesen sei oder währenddessen Angst bekommen habe, verneint er direkt: „Es hat sich noch nie jemand beschwert. Höchstens darüber, dass er wieder aussteigen musste.“ Nach Möglichkeit tritt er einmal in der Woche in die Pedale, fährt dann meistens kleine Runden durch den Stadtbezirk. „Zu besonderen Anlässen wie Geburtstagen fällt die Fahrt auch schon mal länger aus.“ Wo die Tour hingehen soll, das können die Fahrgäste selbst bestimmen – dank der elektrischen Unterstützung sind auch Steigungen beim Radeln kein Problem. „Einmal wollte ein älterer Herr unbedingt in eine Besenwirtschaft, ein anderes Mal eine Frau ihr früheres Wohnhaus besichtigen“, erzählt Herbert Fischer.

Mittel gegen die Vereinsamung

Gerade in der Corona-Zeit, in der vieles nicht möglich war und noch immer nicht ist, bescheren die Spazierfahrten mit der Fahrradrikscha den Senioren etwas Abwechslung im Alltag, sie vermitteln ihnen ein Gefühl von Freiheit und Teilhabe. „Die Idee dazu kam aber schon vor Corona“, sagt Veit Walter. Er ist Leiter der Abteilung Forschung & Entwicklung des Wohlfahrtwerks für Baden-Württemberg und hat das Rikscha-Projekt ins Leben gerufen – als Mittel gegen die Vereinsamung: Die Heimbewohner kommen mal raus an die frische Luft und können sich zudem mit dem Fahrer unterhalten.

Mitstreiter gesucht

Das Problem sei eher, begeisterte Fahrradfahrer zum Mitmachen zu bewegen. Vor allem jüngere. Die meisten Ehrenamtlichen seien bereits über 60 Jahre alt. Seit kurzem sei das Wohlfahrtswerk Mitglied von „Radeln ohne Alter“ – eine Initiative, die 2012 in Kopenhagen entstand und danach von vielen Menschen in die Welt getragen wurde. „Wir hoffen, dass dadurch mehr Leute auf das Projekt aufmerksam werden“, so Walter.

Im Haus am Weinberg war Herbert Fischer lange Zeit der einzige ehrenamtliche Rikschafahrer, „aber wir haben jetzt mit Achim Hettmer und Nedeljko Solaja zwei weitere Mitstreiter gefunden“, berichtet Tetiana Prut, die Ehrenamtsbeauftragte der Obertürkheimer Einrichtung. Künftig sollen nun öfter Spazierfahrten angeboten werden, um möglichst vielen Menschen diese Abwechslung anbieten zu können. Herbert Fischer hätte dann vielleicht auch wieder mehr Zeit für seine musikunterlegten Bildershows, mit denen er seit vielen Jahren nicht nur die Bewohner des Hauses am Weinberg, sondern auch vieler anderer Senioreneinrichtungen unterhält.