2016 feiert das Festival „Heidelberger Frühling“ sein 20-jähriges Bestehen. An diesem Wochenende startet dort die neue Reihe „Neuland.Lied“. Ein Gespräch mit Intendant Thorsten Schmidt.

Heidelberg – Herr Schmidt, der „Heidelberger Frühling“ feiert in diesem Jahr sein 20-jähriges Bestehen. Warum gibt es Ihr Festival noch?

 

Oh, wir sind noch lange nicht am Ende, und mit 20 ist man noch jung! Aber eigentlich ist es fast nicht zu glauben: Wir haben überlebt, obwohl wir in hohem Maße durch Sponsorengelder finanziert werden. Mit manchen Sponsoren haben wir Dreijahresverträge, aber trotzdem müssen wir jedes Jahr 1,2 bis 1,3 Millionen Euro auftreiben. Das ist zumal im Kulturbereich ein hartes Stück Arbeit und keine ganz sichere Basis. Der städtische Zuschuss, der im Jubiläumsjahr bei 810.000 Euro liegt und sonst bei 710.000 Euro, macht nur zwischen 25 und 27 Prozent unseres Etats aus. Im Vergleich zu anderen großen Festivals ist das relativ wenig.

Und Ihre Einnahmen?

Durch Kartenverkäufe erwirtschaften wir immer so um die 33 Prozent unseres Etats. Da wir sehr vieles tun, was wenig Geld einbringt, ist das eine ziemlich gute Quote.

Was ist das Alleinstellungsmerkmal des „Heidelberger Frühlings“? Oder muss man diese Frage nicht stellen?

Doch, unbedingt! Mir war es immer wichtig, dass unser Festival ein Treffpunkt wird. Dass es also nicht nur darum geht, Künstler zu präsentieren, die im Zwei- oder Dreijahresrhythmus wiederkommen, sondern gemeinsam mit bestimmten Künstlern mit ganz, ganz langem Atem etwas Besonderes zu entwickeln. Natürlich könnte man sagen, es ist langweilig, wenn Igor Levit, Thomas Hampson oder Jörg Widmannimmer wieder dabei sind, aber sie alle präsentieren bei uns nicht nur Konzerte, sondern denken mit. Wir treffen uns regelmäßig, diskutieren über Programme und Präsentationsformen, und ich glaube, es ist die Diskursfreude bei den Künstlern und beim Publikum, die den „Heidelberger Frühling“ zu etwas Besonderem macht. Gerade bei Themenreihen und Schwerpunkten wie etwa dem Streichquartett-Festival oder der Liedakademie kommen Zuhörer nicht nur zu einem Konzert, sondern sitzen von morgens bis abends im Saal und tauschen sich aus. Als Jörg Widmann dem Festival im Eröffnungskonzert gewünscht hat „Bleibt so, wie ihr seid“, hat ihm Igor Levit laut widersprochen: „Nein, bleibt wie ihr seid, aber tut weiter, was ihr immer getan habt: Verändert euch jedes Jahr neu.“ Veränderung als Konstante: Das macht uns aus.

Was kann oder sollte eine Festival leisten, was ein normales Konzertleben nicht leisten kann?

Es ist wohl vor allem dieser Plattform- und Treffpunkt-Charakter. Ein Festival muss immer das andere sein, nicht Abo-Alltag. Ich muss neben den Konzerten immer wieder Angebote und Formate entwickeln, die es ermöglichen, das Gewohnte aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Dadurch, dass das Publikum über einen längeren Zeitraum immer wiederkommt, haben wir außerdem die Chance, Themen zu setzen, über die man sich austauschen kann.

Sie kooperieren in diesem Jahr mit Festivals, die ein ähnliches Selbstverständnis haben: mit den Ludwigsburger Schlossfestspielen und dem Podium Festival Esslingen.

Auch indem wir auf das verweisen, was andere gut machen, lösen wir den Plattform-Gedanken ein. Wir machen uns doch keine Konkurrenz. Die Arbeit, die Thomas Wördehoff gerade im Bereich Stimme und Lied macht, ist fantastisch, und das Podium Festival erinnert mich an die Anfangsjahre des „Heidelberger Frühlings“. Wenn man als Festivalmacher auch nur ein wenig Lust auf Veränderung hat, muss man auch nach außen schauen und bereit sein, sich immer wieder zu verändern.

Sie arbeiten regelmäßig mit Künstlern wie Igor Levit, Thomas Hampson und Jörg Widmann zusammen. Wie wichtig sind diese Persönlichkeiten für das Profil eines Festivals?

Über die Auswahl der Künstler, mit denen ich zusammenarbeite, gebe ich dem Festival ein Gesicht. Seit 2003 ist Jörg Widmann jedes Jahr da. Er ist auch sonst überall, aber was er bei uns tut, ist sehr individuell, und Ähnliches gilt für Igor Levit. Da baut sich ein Vertrauensverhältnis auf, und so kann man hier Dinge tun, die an anderen Orten nicht möglich sind. Als Levit, nachdem ich ihn vier Jahre lang bearbeitet hatte, im letzten Jahr bei uns zum ersten Mal Bachs „Goldberg-Variationen“ spielte, war er wahnsinnig nervös, aber ich konnte ihn beruhigen, als ich ihm sagte, dass ihm nichts passieren kann, weil zu unserem Festival das Risiko dazu gehört. Wenn ich als Veranstalter Angst davor habe, dass ein Abend an die Wand fährt, dann kann ich einpacken. Mir ist es lieber, wenn jemand bis an die Grenze geht. Nur dann ist Spannendes möglich.

Für wen machen Sie Ihr Festival?

Wenn man ein Festival aufbaut, dann versucht man, einen Ort zu schaffen, an dem Wichtiges gemacht wird. Und wirklich Wichtiges kann nicht nur für die Stadt sein, sondern muss international ausstrahlen. Das heißt, ich mache das Festival für interessierte Menschen. Wir bieten keine Events, wir wollen niemanden bespaßen. Meine Aufgabe ist es, Künstler und ein interessiertes Publikum zusammenzubringen. Und Künstler werden nicht eingeladen, um etwas abzuliefern und dann weiterzureisen. Sie sind Teil der Familie. Und gerade bei den Festival-Schwerpunkten kommen mittlerweile 40 Prozent der Besucher von außerhalb.

„Neuland.Lied“ heißt eine neue Veranstaltungsreihe dieses Jubiläumsjahres. Birgt der Titel nicht einen Widerspruch in sich selbst?

Im Gegenteil! Hinter diesem Titel steckt meine tiefe Überzeugung, dass wir uns lösen müssen von dem Begriff Kunstlied, von der Fokussierung auf diese bürgerliche Form, und dass wir neu über die beiden Bestandteile Text und Lied nachdenken müssen. Wir müssen wegkommen von dieser sehr hermetischen Form: Vorne sitzt einer am Flügel, davor steht der Sänger, und einige wenige Wissende im Saal nicken und lächeln bei den richtigen Stellen.

Das ist das alte Liedpublikum . . .

Ja, und es wichtig, dass es da gibt. Versuchen Sie mal, einen Abend mit einem jungen Sänger zu programmieren: Dann sitzen Sie womöglich mit nur 30 Zuhörern im Saal. Ich denke da sehr ähnlich wie Cornelia Weidner von der Hugo-Wolf-Akademie in Stuttgart. Wenn ein guter Singer-Songwriter auf der Bühne ist, und es kommt ein Sänger dazu, der ganz ohne Frack Schumanns „Mondnacht“ singt, dann werden sich auch Leute für dieses Lied begeistern, die mit der Gattung des Kunstliedes sonst nie etwas anfangen konnten. Das ist zumindest meine Hoffnung.

Braucht es dafür aber nicht eine Tiefe des Textverständnisses, die man heute bei Jugendlichen nicht mehr voraussetzen kann?

Ja, das ist das Hauptproblem. Deshalb müssen wir noch viel stärker an die Texte herangehen. Das gilt auch für die Sänger, denn sie vor allem sind doch die sind Text-Vermittler. Ein Wald im romantischen Kunstlied steht für etwas, und wenn man das nicht deutlich macht, geht die Spannung verloren. Man muss das üben – etwa so, wie es jetzt der Regisseur Michael Hampe in unserer Liedakademie getan hat. Der hat mit einer Sängerin Mozarts Susanna erarbeitet und gefragt: Wer bist du? Wo bist du? Wie spät ist es? Sechs W-Fragen hat er gestellt, und eben dies müssten wir beim Lied auch tun: ganz konkret in die Texte, ihre Geschichte und kulturellen Hintergründe einsteigen. Wer als Festivalmacher einem breiteren, neuen Publikum das Lied vermitteln will, der schafft das außerdem nicht, wenn er nur ab und zu in einen Liederabend im Programm platziert. Ich habe einen langen Atem, ich gebe nicht auf.

Geht es auch um neue Präsentationsformen?

Diese Frage treibt mich seit 20 Jahren um. Wir haben sehr viele Versuche in diese Richtung unternommen, und auch jetzt sind wieder viele Projekte dabei, die einzelne Veranstaltungen aus ihrem Kontext lösen, verschiedene Genres zusammenbringen und mit neuen Formaten experimentieren. Dabei finde ich es wichtig, dass wir immer auch ganz normale, konventionelle Präsentationsformen dabei haben. Ich muss eine Beethoven-Sinfonie nicht unbedingt im Liegestuhl hören, denn das macht sie für mich nicht besser. Interessant finde ich die Pluralität. Und dass ich mit dem Vorhandenen arbeite, ohne es gleich wegzuschmeißen.

Was bedeutet Ihnen das große Thema Vermittlung?

Oh, da fragen Sie den Richtigen! Dieses Wort löst bei mir eine Allergie aus, ich finde es oft unerträglich, was in diesem Bereich gemacht wird: dieses Durchschleusen von Schulklassen durch Konzerte, auf die keiner Lust hat. Musikvermittlung muss inhaltlich gesteuert sein, nicht in kleine Päckchen verteilt. Und die überzeugendsten Musikvermittler sind die Künstler selbst. Wenn wir dauernd über die Notwendigkeit von Musikvermittlung reden, erwecken wir außerdem den Eindruck, dass wir es bei klassischer Musik mit einer hochgiftigen Substanz zu tun haben, die man nur in homöopathischen Dosen ertragen kann, und das ist Quatsch. Guter Musikunterricht ist die Basis. Und ich glaube nicht, dass das Publikum für klassische Musik ausstirbt. Es wird sich nur ändern, es wird pluraler werden.

Sie müssen sich dann aber auch verändern.

Natürlich, aber das macht unsere Arbeit ja gerade spannend, und es ist eine Chance. Ich darf halt nicht nur Interessen bedienen, sonst hinke ich dem Publikum immer nur hinterher. Ich muss ihm im Idealfall immer ein kleines Stückchen voraus sein. Meine Aufgabe als Festivalmacher ist es, ein Angebot zu bieten, das neugierig macht. Am besten habe ich meine Sache gemacht, wenn nach einer Veranstaltung einer total begeistert ist, und ein anderer fand alles bescheuert. Ich will Reibung erzeugen. Ich brauche den Diskurs. Ich darf bei einem Festival nicht nur wie im Internet nur noch finden, was ich suche.

Und was soll uns Ihr Festivalmotto sagen: „Essential Gifts“?

Gar nicht so viel. Ich wollte zum Jubiläum einfach lauter Musiker und Kollegen einladen, die uns das Beste mitbringen sollten, was sie uns geben können, und da das englische Wort „gift“ sowohl Gabe und Begabung als auch Geschenk bedeutet, ist dieses Motto entstanden, das eher ein Leitgedanke ist. Wir haben uns bei der Programmierung oft gefragt: Passt das jetzt? Müssen wir das machen? Es ist klar, dass zu einigen Konzerten nur wenige Besucher kommen werden. Aber wenn wir solche Veranstaltungen selbst im Jubiläumsjahr nicht wagen, dann sind wir nicht besser als ein normaler kommerzieller Veranstalter. So sage ich: Jeder Einzelne, der zu uns kommt, ist für mich eine große Freude.