Der Tübinger Theologe Peter Hünermann erklärt im StZ-Interview, ob die Heiligsprechung der beiden Päpste in Rom gerechtfertigt ist und ob den Heiligen auch Sünden erlaubt sind.

Tübingen - Manche müssen Jahrhunderte warten, bei Johannes Paul II. ging es so schnell wie kaum je zuvor: Neun Jahre nach seinem Tod wird Karol Wojtyla, der polnische Papst in den Zeiten des europäischen Umbruchs, am kommenden Sonntag in Rom heiliggesprochen. Mit ihm erfährt auch Johannes XXIII. diese Ehre, der 1962 das Zweite Vatikanische Konzil einberufen und damit die große Erneuerung der katholischen Kirche und ihre Öffnung zur Welt eingeleitet hat. Dazu befragen wir den katholischen Theologen Peter Hünermann (85) von der Universität Tübingen.
Herr Hünermann, was ist Heiligkeit? Muss ein Mensch, um heilig zu werden oder zu sein, den ganzen Tag lang beten?
Nein, so starre Muster gibt es nicht. Aber Vorbilder sollten die Heiligen schon sein. Genauso wie die Bischöfe, die Hirten der Kirche. Das sagt schon Paulus ganz selbstverständlich im Neuen Testament: richtet euch an meinem Lebensstil aus, daran, wie ich zu Christus stehe! Menschen orientieren sich immer an Autoritäten, bei den Kindern angefangen, die sich an den Eltern orientieren. Und in ihren zweitausend Jahren hat die Kirche ganz verschiedenartige Menschen heiliggesprochen. Je nach der geschichtlichen Situation, nach dem religionspädagogischen Ansatz der Zeit, je nach dem Wirken innerkirchlicher Lobbygruppen wandelt sich der Typ von Heiligen. Auch sind immer wieder politische Einflussnahmen und Entscheidungen mit im Spiel. Oder das Drängen von einzelnen Orten oder Ländern, die alle ihren Spezialheiligen wollen. Auch Auswüchse gab es – die Herstellung und Verbreitung von Reliquien zum Beispiel. Und es muss ja einer auch nicht heiliggesprochen werden, damit er heilig ist. Bei der Heiligsprechung geht es vielmehr darum, ob dieser Mensch öffentlich verehrt werden soll.
Aber wie soll man Menschen verehren wie den mittelalterlichen Kaiser Heinrich II, der grausame Kriege gegen die Polen geführt hat und trotzdem heiliggesprochen worden ist?
Kriege waren in jener Zeit fast eine Naturgegebenheit. Karl der Große ist fast jedes Jahr ausgezogen. Heinrich wurde damals als Verteidiger des Glaubens gesehen. Das sind andere Maßstäbe als die der Neuzeit.
Müsste man dann nicht die eine oder andere Heiligsprechung widerrufen?
Ich bin der Meinung, dass man das nicht machen sollte. Weil jeder Mensch in seiner Situation groß wird und nach bestem Wissen und Gewissen und nach den Maßstäben agiert, die ihm zur Verfügung stehen. Für die damalige Zeit hatte Heinrich seine Bedeutung gehabt. Und es wird bei den Heiligen sehr deutlich, dass diese sich in ihrer Bedeutung verändern.
Als Menschen sind Heiligkeitskandidaten immer auch Sünder. Inwieweit geht Sünde in die Heiligkeit ein? Spricht man nur den „sauberen“ Teil eines Menschen heilig, beim einen sein Gebetsleben, beim nächsten seinen karitativen Einsatz, und was nicht passt, blendet man aus?
Nein, nein. Heiligsprechung ist immer ein Urteil über eine Gesamtpersönlichkeit. Wir haben große Beispiele dafür: Augustinus, Paulus, bei denen die Bekehrungen immer eine große Rolle gespielt haben in der Art, wie sie als Heilige aufgenommen wurden. Große Menschen haben sich immer dadurch ausgezeichnet, dass sie kritisch gegenüber der eigenen Vergangenheit, der eigenen Person waren, und zugegeben haben, zunächst aus verengter Sichtweise heraus gehandelt und sich im Lauf der Zeit geändert zu haben. So etwas gehört wesentlich mit dazu.