Die Digels sind mit ihren Kindern in den 50er Jahren nach Winnipeg ausgewandert. Doch täglich informiert sich der heute 72-jährige Sohn auf der Internetseite der LKZ über die Geschehnisse im Altkreis.

Heimsheim - Zwischen Deutschland und Kanada liegen zwar knapp 7000 Kilometer Luftlinie. „Aber ein Schwabe, der Englisch spricht, fühlt sich auch hier auf Anhieb zu Hause“, behauptet Alfred Digel, der mit seinen Eltern und den zwei Schwestern 1957 ausgewandert ist. Gut, das Land sei weitläufiger, sodass man mit dem Auto schon mal kilometerlang auf einer kerzengeraden Straße unterwegs sei. Und wenn es nachts vor dem Haus scheppert, kann es sein, dass sich wieder ein hungriger Bär über den Hausmüll hermacht. „Aber ansonsten ist alles wie im Ländle“, versichert der 72-Jährige mit einem Schmunzeln.



 

Der nächtliche Besucher mit einem Faible für Abfallreste lässt sich übrigens nur deshalb blicken, weil Digel gemeinsam mit seinem Labrador Oliver mitten in der Pampa lebt. Seine Farm, an die sich ein 16 Hektar großes Ackerland anschließt – es wird von der Kirchengemeinde der Hutterer bewirtschaftet – liegt etwa 60 Kilometer von der Hauptstadt Winnipeg entfernt in der östlichsten Prärieprovinz Manitoba, die reich an Flüssen, Seen, arktischer Küste sowie Wäldern ist und als die „Kornkammer“ des Landes bezeichnet wird. Bis in die nächste Ortschaft Beausejour sind es ganze 20 Kilometer und wenn sich Digel mal beim Nachbarn ein paar Eier borgen möchte, muss er fast schon seine Wanderstiefel herauskramen.

Er mag es am liebsten beschaulich

Der Mann mit dem englischen Akzent, der es am liebsten „beschaulich“ mag, ist hier seit 1957 zu Hause. Gemeinsam mit seinen Eltern Alfred und Maria sowie den beiden jüngeren Schwestern Margaret und Verena lebte er bis dahin in der Breitenstraße 14 in Heimsheim. „Mein Vater hatte dort am Haus eigenhändig mit Tausenden von Steinen eine terrassenförmige Mauer erbaut“, sagt er über Alfred senior, der 1981 bei der Planung eines Wochenenddomizils am Lake Winnipeg starb und am 24. Mai 100 Jahre alt geworden wäre. Ihm zu Ehren hat der Sohn eine Anzeige in dieser Zeitung geschaltet. 



Sein Vater war Werkzeugmacher und diente im Zweiten Weltkrieg als Mechaniker. „Weil er Brillenträger war, musste er nicht an die Front“, berichtet sein Sohn, der mit Blick auf das handwerkliche Geschick seines alten Herrn von einem Alleskönner spricht. Nach dem Militärdienst war das Familienoberhaupt bei der Autobahnmeisterei tätig, später in einer Flaschnerei. Mutter Maria arbeitete bei der Darlehenskasse, bevor sie eine Stelle auf dem Landratsamt antrat. Besonders gerne erinnert sich Digel an die Grundschulzeit zurück. „Mein Lieblingslehrer Imanuel Stutzmann weckte die Liebe zum Lesen und Schreiben in mir“, erzählt der 72-Jährige, der zuletzt die achte Klasse am Progymnasium in Leonberg besucht hatte.

Den Vater habe es schon immer in die Ferne gezogen. „Noch im Krieg schwärmte er von Afrika und Australien“, berichtet Digel. Als es 1956 zum Volksaufstand in Ungarn kam, den die Russen blutig niederschlugen, sah dieser erneutes Unheil über Europa kommen. Und da er nicht wollte, dass auch sein Sohn im Krieg dienen muss, packten die Digels ihre Koffer. Vor allem Kanada sei damals für den Heimsheimer ein Synonym für Freiheit und Frieden gewesen, „unerreichbar für Krieg und Überfall“.



Selbstbedienung im Supermarkt kannten sie nicht

An den ersten Tag in der neuen Heimat erinnert sich Digel mit einem Schmunzeln. „Wir kamen im November an und die Schneeflocken flogen uns schneller um die Ohren als unser Taxi fuhr“, erzählt er. Zunächst bewohnte die Familie eine Unterkunft für Einwanderer in Winnipeg, bevor sie später ein Haus erstand – die deutsche Community ist übrigens eine der größten Minderheiten in der Metropole. Weil Kanada dem 72-Jährigen zufolge „ein offenes Land für alle Rassen und Kulturen ist“, lebten sich auch die Digels schnell ein – trotz der ein oder anderen fremden Gepflogenheit. „Besonders irritiert waren meine Eltern, als sich im Supermarkt keiner die Mühe machte, sie zu bedienen“, berichtet er grinsend. „Selbstbedienung kannten wir doch nicht!“ 
    Der Junior verdiente sich sein Geld als Buchhalter, dann verkaufte er Reifen für Dunlop und fuhr am Ende Taxi. Seine jüngste Schwester Verena war für die Fluggesellschaft Air Canada tätig, während Margaret in der Verwaltung eines Lebensmittelgroßhändlers arbeitete. Die beiden leben in Winnipeg – genauso wie Mutter Maria, die trotz ihrer 94 Jahre ihren Haushalt ganz allein führt und sich an sechs Enkelkindern erfreut.

Die rüstige Dame zog übrigens vor zwei Jahren das ganz große Los und knackte den Jackpot mit 6,9 Millionen US-Dollar. Getippt hatte sie seit 30 Jahren immer dieselben Zahlen – die Alter der Familienmitglieder bei der Ausreise nach Kanada. „Das Geld werde ich für den Notfall aufheben, ich lebe ein einfaches Leben“, sagte die glückliche Gewinnerin damals. Am Ende teilte sie die Summe gleichmäßig mit ihren Kindern.

Erstmals seit dem Wegzug besuchten Alfred Digel und seine Schwester Margaret im vergangenen Jahr ihre alte Heimatstadt. „Ein Teil der Familie ist noch hier“, erklärt der 72-Jährige. Von der Schleglerstadt ist er hellauf begeistert. „Die Innenstadt ist viel sauberer, es gibt einen Gehweg und die Häuser sind schön verputzt”, sagt der Mann, der damals ein zerbombtes Heimsheim erlebt hatte.

Bis heute ist Digel, der sich voll und ganz als Kanadier fühlt, auf eine Spätzlemaschine aber keinesfalls verzichten mag, mit seiner alten Heimat eng verbunden. So informiert sich der 72-Jährige täglich auf der Internetseite der LKZ über die Geschehnisse im Altkreis. Und selbst in seiner E-Mail-Adresse kommt der Kotzenbach vor.