Thomas Hettche operiert mit seinen Romanen und Essays am offenen Herzen unserer Zeit. Für sein Werk an den Schnittstellen zwischen Wirklichkeit und Literatur hat er den Hermann-Hesse-Preis der Stadt Karlsruhe erhalten.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Die schönsten Dinge beruhen auf der intimen Kenntnis dessen, woraus sie gemacht sind. Anatomie hat gemeinhin mehr mit Totem als Lebendigem zu tun. Und auch wenn sie dabei hilft, das Lebendige zu verstehen, ist sie zunächst mit dessen Auflösung und Zergliederung befasst. Kälte ist ihr Element, ihr Werkzeug das Skalpell. Gefrierschnitte trennen unwiderruflich die anatomische Bühne von der, auf der wir uns alltäglich bewegen.

 

Nun kann es aber passieren, dass jemand in einem anatomischen Atlas blättert, über das Papier streicht, über Hirnwindungen, hell und dunkel schattierte Flächen, zerlegte Segmente – und plötzlich finden die zerstreuten Glieder wieder zusammen, das Leben schießt in sie zurück. Unmöglich? „Doch, sagte der Kopf, es geht doch, stieg aus dem Buch und zog dabei einen Körper nach sich.“ So geschieht es in einer Szene in Thomas Hettches Roman „Ludwig muss sterben“, mit dem vor knapp dreißig Jahren die Geschichte seines Schreibens begonnen hat.

Eine Schlüsselszene, nicht nur, weil sich Anatomisches wie ein roter Faden durch alle metaphorischen Konstellationen und buchstäblichen Stellungen dieses Werkes zieht. Sondern weil hier ein Kopf spricht und gleichzeitig zum Akteur einer Erzählung wird, weil hier Grenzen überschritten werden, Gehirn und Körper zusammenfinden, Papier und Leben, Theorie und Anschauung. Und dies nicht, um den Katalog wackeren Synthesebemühens um einige neue Ausgleichsmodi zu bereichern, sondern um aus den Berührungen der Gegensätze Funken zu schlagen, die zum Schrittmacher unserer leeren Herzen werden können.

Den Sinn freizusetzen, kann eine blutige Angelegenheit sein

Auch in Hettches jüngstem Essay-Band „Unsere leere Herzen“ spricht ein Kopf, der immer wieder die Sphäre der intellektuellen Betrachtung verlässt, sich erzählend materialisiert, an den Schnittstellen zwischen Wirklichkeit und Literatur. Und was ist ein Roman anderes, wie es in dem Buch einmal heißt, als ein Schnitt in die Welt, der ein Innen und Außen erst erzeugt.

Wie bequem, wenn man sich nun auf eine Inhaltsangabe zurückziehen könnte, um die Diagnosen am offenen Herzen unserer Leere wiederzugeben. Es geht um nichts geringeres als um die Frage, welchen Nutzen wir aus der Literatur für unserer Leben ziehen können. Aber die Erkenntnis lässt sich nicht von der spezifischen Weise ihres Erscheinens trennen. Sie ist das Abenteuer selbst, in das die Texte den Leser verstricken.

Und den Sinn freizusetzen, kann im Zweifel eine recht blutige Angelegenheit sein, wie Hettche am Mythos des von Apoll gehäuteten Silens Marsyas zeigt. Im musikalischen Duell gegen den Lyraspieler Apoll ist der Flötenbläser Marsyas unterlegen. Der Sieger straft den Rivalen auf grausame Weise. An einem Baum gefesselt wird Marsyas die Haut abgezogen. Ovid hat den Vorgang in allen akustischen und optischen Details festgehalten. Hettche spiegelt in der Szene das agonale Verhältnis zwischen Leser und Autor wieder: „als ließe das Werk sich anstechen, damit der Sinn herausfließt wie das Blut aus Marsyas‘ geschundenem Leib und ein Fluss der Rezeption daraus entspringe.“ Statt des Schauspiels dieses Anstechens und Wettstreits seien hier zwei unschuldige Erlebnisse mit diesem Buch der Bücher festgehalten.

Und die erste Erfahrung ist wie im Mythos eine musikalische: Wie eine Fuge mit mehreren Themen sind diese Stücke aufgebaut. Eine Erzählung von Thomas Mann, in die als Gegenthema der Terror von Paris hineinklingt, der die säkulare Schrumpfform religiösen Empfindens anspielt, sie hallt in der ästhetischen Erfahrung eines ottonischen Kirchenbaus wieder und leitet zu einer dunklen Reprise des Religiösen über. Hettche ist der große Kontrapunktiker der Literatur, das abgegriffenen Wort der Vielstimmigkeit gewinnt in seiner zutiefst polyphonen Schreibweise neues Leben: ein hochempfindliches Sensorium für die Motive unserer Zeit und die ewigen formalen Wahrheiten der Kunst der Fuge finden darin zusammen.

Die zweite Erfahrung ist eine alchimistische: Was Hettche zusammenbringt, sind Dinge, die sich nicht auf einfache Weise miteinander verbinden. Und suchte man für die poetische Kraft und Eigenart seiner Verfahren eine Entsprechung, man fände sie nicht in der organischen Wachstums- und Entwicklungsidee, der Geschichten für gewöhnlich folgen, sondern in der gelehrten Praxis der Alchemisten, die aus der Kombination der Elemente ihre wundersamen Verwandlungen bewirken. Bei Hettche führen sie zu Effekten wie den folgenden: „Wenn ich mich strecke, wenn ich die Arme ausbreite, tanzen an meinen Fingerspitzen die Elmsfeuer der Literatur.“

Denken in Aromen, Gerüchen und Gefühlen

Ovids Metamorphosen, Fundament aller Verwandlungen, sind nicht nur in jener schrecklichen Häutung des Marsyas präsent. Hettches Texte sind selbst sonderbare Mischwesen, sie nehmen die Witterung eines Gedankens auf, und schlagen sich bei der ersten Gelegenheit ins Dickicht der Zeiten. Der Gang der Reflexion ist durchkreuzt von Schleichwegen. Auf einem davon stiehlt sich Peter Schlemihl im Schatten des Autors vorbei. Denn es ist nicht weit von hier zur „Pfaueninsel“ auf der Hettche seinen letzten Roman angesiedelt hat, wo sich die Wellen der Wirklichkeit an den Gestaden der Einbildungskraft brechen.

Was dort in der Nähe Berlins, wo sich ein Preußenkönig ein künstliches Paradies schaffen wollte, Gestalt gewonnen hat, fügt sich zu einer Geschichte des Imaginären. Sie erstreckt sich von den Spuren mesolithischer Jäger bis zum Standpunkt des heutigen Erzählers, zu ihr gehören Mythen und Märchen, Riesen und Zwerge, literarische Gestalten wie Peter Schlemihl, die Entfesslung der Natur und ihre Bändigung.

Waren es nicht die Geschichten der Literatur, die uns lehren sollten, die richtigen Entscheidungen zu treffen, fragt Hettche einmal. In seinem alchimistischen Schreiben verschmelzen Reflexion und sinnliche Erfahrung: ein Denken in Aromen, Gerüchen und Gefühlen, „die uns erreichen wie Nebelschwaden, die sich über die Landschaft unserer Seele legen und weiterziehen“. Hettches Geschichten erteilen keine Lehre, die außerhalb dieser flüchtigen Erscheinungsform bestehen würde. In der Dunkelkammer unserer leeren Herzen entflammt er mit den Elmsfeuern seiner Fingerspitzen die Vision, durch Konstellationen von Texten dem Gang der Dinge einen anderen Lauf geben zu können. Und je gewittriger und aufgeladener die Umgebung, desto heller der Effekt.

In den verblüffenden Korrespondenzen, die den subjektiven Einzelheiten und Beobachtungen Halt in einem übergeordneten Ganzen geben, kristallisiert die Idee. Anatomen, Kontrapunktiker, Alchimisten sind ihre aus der Zeit gefallenen Gewährsleute. Dieses Buch, das das Vergehen der Zukunft mit dem Anheben der Vergangenheit zusammendenkt, ist ein mächtiges Collage-Werk. Zerschneiden hat viel mit Schöpfung zu tun, das ist der Glaube des Anatomen. Bei Hettche schaut ihm der Erotiker über die Schultern: Zerschneiden und Zusammenfügen, um den Dingen das zu geben, was fehlt.

Der Text ist die gekürzte Fassung der Laudatio, die bei der Verleihung des mit 15000 Euro dotierten Hermann-Hesse-Preises an Thomas Hettche im Karlsruher Rathaus gehalten wurde.