Tilmann Eberhardt aus dem Stuttgarter Westen holt ukrainische Kinder- und Jugendbücher nach Deutschland, um einem bedrohten Verlag zu helfen und ukrainischen Kindern ein Stück Heimat zu bieten. Die Reaktionen gehen zu Herzen.

Architektur/Bauen/Wohnen: Andrea Jenewein (anj)

Er beugt einen Bücherstapel von rechts nach links, den nächsten von links nach rechts. Trotz des scheinbaren Widersinns dieses Verfahrens schafft er es auf diese Weise, den Besuchern eine Schneise von der Tür bis zum hinteren Teil des Raums zu bahnen, wo auf einem Tisch ebenfalls Stapel an Büchern liegen – allerdings ordentlich präsentiert. Der Raum im Stuttgarter Westen ist eigentlich sein Büro, das gleichzeitig Showroom ist (Roete 69). „In einem Artikel, der in den 1980er Jahren erschienen ist, titelte die Stuttgarter Zeitung ‚Eigentlich mag es Herr Eberhardt ordentlich‘“, sagt der Mann, der selbst besagter Tilmann Eberhardt ist, und schiebt seine petrolfarbene Brille zurecht. „Das alles gab es hier bis vor ein paar Wochen noch nicht“, fügt er an und macht eine Handbewegung, die sowohl den Präsentationstisch als auch die Bücherstapel und -kartons rechts und links entlang der Schneise einschließt.

 

Leidenschaft für Osteuropa „Das alles“, das sind ukrainische Bücher, Kinderbücher, um genau zu sein. Eberhardt, der als freier Verlagsvertreter für etliche Verlage unterwegs ist, holt diese, seit in der Ukraine Krieg ist, nach Deutschland – um einerseits den ukrainischen Verlag zu unterstützen, andererseits aber auch den ukrainischen Kindern in der Fremde ein Stück Heimat zu bieten. „Ich bin ein politisch und historisch interessierter Mensch und hatte schon immer eine Neigung zu Osteuropa“, sagt er. Eine Musikerin, die aus Bulgarien stammt und für eine Weile seine Freundin war, verstärkte seine Leidenschaft. Eine Reise führte ihn im Jahr 2018 dann unter anderem in die Ukraine, wo er auf den kleinen Kinderbuchverlag Schwarze Schafe (Чорні вівці) aus Czernowitz stieß, der die Lizenz des deutschen Kinderbuchs „Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“ vom Peter-Hammer-Verlag gekauft hatte, den Tilmann Eberhardt vertritt.

Buchtransporte mit privatem Lieferdienst Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, fragte er sich, was aus dem kleinen Verlag werden würde. Und beschloss, mehr zu tun, als darüber nachzusinnen: Er machte sich Anfang März mit dem Zug und mit Hilfsgütern im Gepäck auf den Weg in die Ukraine, mit dem Ziel, auf dem Rückweg Bücher mit nach Deutschland zu nehmen. „Doch ich kam nicht über die Grenze, da waren Checkpoints auf beiden Seiten“, erinnert sich Eberhardt. Es gelang ihm zwar, die Medikamente und Taschenlampen an die Ukrainer abzugeben, doch er fuhr mit leeren Händen zurück. Wenig später erreichte ihn eine Mail vom Verlag. Man habe nun einen anderen Weg gefunden: Eberhardt überweist das Geld für die Bücher, ein Lieferdienst, der privatwirtschaftlich von Ukrainern geführt wird und vor allem nach Deutschland geflüchteten Ukrainern nachträglich ihr Hab und Gut bringt, transportiert die Buchpakete aus Czernowitz nach Stuttgart. „Ich muss seitdem einmal die Woche zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Parkplatz sein, dann werden mir jedes Mal rund 500 Bücher übergeben“, sagt Eberhardt.

Großhändler als Kunde Seine ukrainischen Unternehmungen erfüllen ihn – und füllen sein Leben auch zunehmend aus: „Ich starte mit fast 65 Jahren noch ein Unternehmen. Das Ganze hat eine unglaubliche Dynamik bekommen, es zwingt mich etwa dazu, ein Lager anzumieten“, sagt Eberhardt. Denn zwischenzeitlich hat er, der seine Bücher entweder selbst oder an Buchläden verkauft, einen Großhändler als Kunden hinzugewonnen. „Umbreit aus Bietigheim-Bissingen hat 36 Kinder- und Jugendbuchtitel bei sich aufgenommen, die gehen nach ganz Deutschland.“ Zudem will der Großhändler fortan noch ukrainische Belletristik mit aufnehmen, 14 Erwachsenentitel sind geplant.

Kleine Buchläden als Verkäufer In Stuttgart findet man die ukrainischen Bücher des Verlags Schwarze Schafe bei der Markus-Buchhandlung im Stuttgarter Süden, im Botnanger Buchladen und bei der Buchhandlung Pörksen im Stuttgarter Westen – Letztere bezieht sie über den Großhändler und nicht direkt bei Eberhardt. Doris Siegle von der Markus-Buchhandlung hat einige der ukrainischen Bücher im Schaufenster stehen. Sie findet den „riesigen Einsatz“ von Tilmann Eberhardt „ganz toll“: „Das ist etwas, was man unterstützen muss.“ Sie hat bereits einige Bücher verkauft, teils auch verschenkt, etwa an den Lesezirkel der Markuskirche.

Ein Stück Geborgenheit für Kinder Ursula Kloke vom Botnanger Buchladen ist der Meinung, dass „es ein Signal an die Menschen braucht, die hier aus dem Kriegsgebiet ankommen – wir müssen ihnen ein Stück entgegenkommen“. Sie will es Müttern ermöglichen, ihre Kinder in der Fremde zu beschäftigen – und ihnen ein Stück Geborgenheit zu geben. „Ich glaube, Bücher sind da vielleicht eine Möglichkeit.“ Da die ukrainischen Familien oft nur wenig Geld hätten, kaufen laut Kloke oft Gastfamilien die Bücher: Da darunter nicht nur ukrainische Klassiker seien, sondern auch auch deutsche Titel in der ukrainischen Übersetzung – etwa Erwin Mosers „Fantastische Gute-Nacht-Geschichten“ – sei das eine Form, „die Welten miteinander in Verbindung zu bringen“. Deshalb spendete Kloke auch einen Teil der Anerkennungsprämie für Buchhandlungen, die ihrem Buchladen in diesem Jahr für „besondere kulturelle Leistungen während der Pandemie“ zugesprochen wurde: Für drei Schulen konnten ukrainische Buchpakete zusammengestellt werden. Eberhardt packte gleich noch eins mehr und spendete es aus seinen persönlichen Mitteln der Schwabschule.

Rückmeldungen aus der Ukraine Es sind denn auch die Reaktionen der Menschen, die Eberhardt immer wieder darin bestärken, „mit viel zu wenig Schlaf viel zu viel zu bewältigen“. Besonders rühren ihn die Rückmeldungen aus der Ukraine. Etwa ein Eintrag in den sozialen Medien. Dort, so sagt er, schreibe etwa eine ukrainische Autorin: „Oh Gott, oh Gott, meine Bücher in einer deutschen Bibliothek!“ Plötzlich nimmt Eberhardt seine petrolfarbene Brille ab. Tränen laufen ihm über das Gesicht. Er wischt sie mit den Händen erst von rechts nach links, dann von links nach rechts. Alles ergibt Sinn.

Sommermarkt Der ukrainische Kinderbuchverlag Schwarze Schafe präsentiert sich am 25. Juni bei „Wetterleuchten“, dem Sommermarkt der unabhängigen Verlage vor dem Stuttgarter Literaturhaus. Zudem ist er bei den Kinder- und Jugendbuchwochen vom 11. bis 20. Juli in der Stadtbibliothek dabei. Tilmann Eberhardt zeigt und verkauft zudem Bücher des Verlags beim Sommerfest der Kulturen vom 12. bis 17. Juli auf dem Stuttgarter Marktplatz. Kontakt zu Tilmann Eberhardt per Mail: Roete69@gmail.com. Sein Showroom befindet sich im Gebäude Rötestraße 69.