Mehr als 1400 Inder sind in den vergangenen Tagen dem Hitzschlag erlegen. Es fehlt an Trinkwasser. Auf dem Subkontinent herrschen Temperaturen bis zu 48 Grad.

Stuttgart - In Safdarjung, einem Viertel der indischen Hauptstadt Delhi, verwandelte von der Hitze aufgeweichter Asphalt einen Zebrastreifen in eine psychedelisch anmutende Schwarz-weiß-Variante der „Tatort“-Spirale. In Andhra Pradesh, dem am schlimmsten betroffenen Bundesstaat, versuchen die Behörden, mit Wasserlagern den Hitzetod zu stoppen. Der greift landesweit wegen Temperaturen mit bis zu 48 Grad Celsius um sich. Bis Donnerstagnachmittag forderte die schlimmste Hitzewelle seit zehn Jahren insgesamt 1400 Menschenleben. Teile des Landes und Metropolen wie Delhi haben sich mittlerweile in Brennöfen verwandelt.

 

Die Inder, die sich in diesen Tagen auf die Straße wagen, spüren noch während der etwas milderen Abendstunden einen Gluthauch am Leib. Erst brennt die Gesichtshaut. Dann vertrocknen die Lippen. In Delhi, wegen der massiven Luftverschmutzung ohnehin die dreckigste und ungesundeste Hauptstadt der Welt, trocknen auch die Atemwege schneller aus, als die Millionen von Bewohnern Flüssigkeit zu sich nehmen können.

Vor allem die Armen leiden unter Hitzewellen und Monsun

„Selbst das Wasser ist abends zu heiß, um es zu trinken“, sagt Mohammed Nawab, einer der rund 100 000 obdachlosen Tagelöhner in der Metropole. Der ausgemergelte Mann, der in den Nachmittagsstunden im Schatten eines Abfallcontainers Schutz vor der Sonne sucht, kann nur müde über den Ratschlag lächeln, den die Behörden zum ersten Jahrestag des Amtsantritts von Premierminister Narendra Modi als Vorsichtsmaßnahme gegen Hitzschlag empfohlen hat: Im Haus bleiben, viel trinken und anstrengende Arbeit vermeiden. „Und wie soll ich dann meinen Lebensunterhalt verdienen?“ fragt Nawab.

Jeder vierte hungerleidende Mensch der Welt, so heißt es in der neuesten, erst am Mittwoch veröffentlichten Statistik der Welternährungsorganisation FAO, lebt in Indien. Die Zahl von knapp 200 Millionen Menschen verbesserte sich trotz beeindruckendem Wirtschaftswachstum auf dem Subkontinent während der vergangenen zehn Jahre nicht. Wenn dann im Sommer kurz vor dem Regen und Abkühlung bringenden Monsun Hitzewellen das Land heimsuchen, leiden vor allem die Armen.

Im Sommer steigt Temperatur regelmäßig auf über 40 Grad

Während des vergangenen Jahrzehnts, in dem die Sommertemperaturen zwar nicht auf die gegenwärtigen Rekordzahlen aber regelmäßig immer noch deutlich über 40 Grad Celsius stiegen, kletterten die Verkaufszahlen für Klimaanlagen jährlich um rund 20 Prozent. Dieser Zuwachs zeugt von steigender Konsumkraft. Aber während der gegenwärtigen Hitzewelle verstärken diese stromfressenden Kühlanlagen so viel Elektrizität, dass die Versorgung wankt. Dies führt dann zum Ausfall der Pumpen für die Wasserversorgung und Engpässen bei der Versorgung der Bevölkerung während der heißen Wochen.

„Eine kürzlich veröffentlichte Studie hat nachgewiesen, dass Indiens zunehmender Hitzestress bereits zu einer Einschränkung der Arbeitskraft und der Fähigkeit, unter freiem Himmel tätig zu sein, geführt hat“, schreibt der Meteorologe Eric Holthaus. Umweltexperten sind sich sicher, dass die globale Klimaerwärmung für das unmenschlich heiße Wetter verantwortlich ist. Die Regierung des 1,3 Milliarden Einwohner zählenden Landes weigert sich dennoch standhaft, den internationalen Vereinbarungen zum Umweltschutz zuzustimmen.

Grund für die Hitzewelle sind Windströmungen

Der aktuelle Grund für die Hitzewelle sind Windströmungen, die heiße Luft aus Pakistan und Afghanistan auf den Subkontinent bringen. Erleichterung könnte erst die mehr denn je ungeduldig erwartete Regenzeit bringen. Sollte der Monsun in diesem Jahr pünktlich eintreffen, dürfte Anfang Juni als erstes der südliche Bundesstaat Kerala die Hitze gegen sintflutartige Regenschauer eintauschen.

Aber in Zentral- und Nordindien könnten noch Wochen vergehen, bis der Monsun die Sommerhitze vertreibt. Manche Medien warnen bereits, dass es zuvor in einigen Regionen zu einer Dürre kommen könnte. Doch solche pessimistischen Vorhersagen beruhen teilweise auf abergläubischer Deutung von vermeintlichen Vorzeichen – oder auch politischen Hoffnungen.

Einwohner baden in verdreckten Flüssen

„Wenn der Monsun später kommt und die Landwirtschaft leidet, könnte es eng für die Regierung von Premierminister Narendra Modi werden“, glaubt Hartosh Singh Bal von der Zeitschrift „The Caravan“. „Im ersten Jahr einer Regierungszeit kann das verhängnisvoll werden. Allerdings wird jedes Jahr über den Monsun debattiert.“ Viele Inder suchen gegenwärtig freilich nicht nach politischer Abwechslung, sondern nasse Abkühlungsmöglichkeiten – und verfallen auf lebensgefährliche Auswege. Sie baden im Ganges oder Yamuna, die beide so verdreckt sind, dass das flüssige Etwas in den Flüssen als lebensgefährlich gilt.