Das Zahnradbahn-Gespräch mit Prominenten aus dem Sport: auf dem Weg nach oben erzählen sie von ihren Karrierehöhepunkten, auf dem Weg nach unten von Tiefpunkten. Heute trifft StZ-Sportchef Peter Stolterfoht den Turn-Olympiasieger Marcel Nguyen.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Langer Name, kurze Begrüßung: „Hallo, hier bin ich“, sagt Marcel Van Minh Phuc Long Nguyen, wie der 25 Jahre alte deutsche Turnstar in der Komplettversion heißt. Zierlicher als im Fernsehen sieht Marcel Nguyen aus, wie er so mit seinen 1,67 Meter und den 56 Kilogramm auf dem Marienplatz im Stuttgarter Süden steht. Aber einen kräftigen Händedruck besitzt er und einen mächtigen weißen Schal, mit dem er sich gegen die Januarkälte schützt. Also, schnell rein in die Zahnradbahn, in der die Heizung brummt.

 

Marcel Nguyen, der zunächst etwas schüchtern wirkt, taut jetzt langsam auf. Die Aussicht, auf der Fahrt hinauf nach Degerloch über die Höhepunkte in seinem Leben zu sprechen, gefällt Marcel Nguyen, der gleich auf die Olympischen Spiele 2012 in London zu sprechen kommt, wo er zweimal Silber gewann: im Mehrkampf und am Barren. „Für mich hat die Mehrkampfmedaille aber eine größere Bedeutung“, sagt der 25-Jährige, der Turnen als Ganzes versteht und die fortschreitende Gerätespezialisierung kritisch sieht. Eine besondere Bedeutung hat dieses Mehrkampfsilber hinter dem Japaner Kohei Uchimura aber auch noch aus einem anderen Grund. Schließlich ist Nguyen der erste Deutsche nach 76 Jahren gewesen, der in diesem Traditionswettkampf wieder eine Medaille gewonnen hat. „Krass, oder?“, sagt Marcel Nguyen. Und es wird noch krasser.

Über Nacht ein Medienstar

„Was nach Olympia alles auf mich eingestürmt ist, hat mich verblüfft, fasziniert und auch verwundert“, sagt er. Der kleine Turner wurde über Nacht zum großen Medienstar, mit allem was in Deutschland dazugehört: Einladungen zum RTL-Jahresrückblick, ins ZDF- „Sportstudio“, in die ARD-Familienshow „Klein gegen Groß“, dazu noch Platz drei bei der Wahl zum Sportler des Jahres.

Nguyen merkte schnell, dass im Rampenlicht Kleinigkeiten eine große Bedeutung bekommen. Seine Tätowierung auf der Brust beispielsweise, wo geschrieben steht: Pain is temporary – Pride is forever (Schmerz ist vergänglich – Stolz ist für immer). „Ein Fan hat sich das jetzt auch stechen lassen und mir Bilder geschickt, verrückt, oder?“ Ja, ziemlich verrückt. Aber so ist das nun mal, bekannte Sportler sind Trendsetter. So kann Marcel Nguyen auch für sich in Anspruch nehmen, den sogenannten Undercut salonfähig gemacht zu haben. Die Antwort auf den Vokuhila-Schnitt der 80er Jahre ist oben lang und an den Seiten raspelkurz. Am Freitagabend auf der Theodor-Heuss-Straße kommt einem diese Frisur hundertfach entgegen. Dort ist dann auch Nguyen, der in Stuttgart-Mitte wohnt, manchmal unterwegs.

Der Turner und seine Berater

Die Zahnradbahn ist nicht der Nachtbus und nicht unbedingt für ein hippes Publikum bekannt. Dennoch kommt ein älterer Herr auf Marcel Nguyen zu, um sich dann aber an dessen Berater Jens Zimmermann zu wenden. „Was ist denn eigentlich bei den Blauen los“, sagt der Zacke-Fahrgast zu Zimmermann, der bis vor Kurzem noch Manager beim Fußball-Drittligisten Stuttgarter Kickers gewesen ist.

Wenn nicht in der Zahnradbahn, so ist der Rummel um Marcel Nguyen anderswo so groß, dass sich mittlerweile ein Beraterteam um ihn kümmert. Neben dem Stuttgarter Jens Zimmermann ist das Jörg Neblung und seine Agentur in Köln. Aber selbst die PR-Profis waren überrascht, was Marcel Nguyens Werbereise nach Hongkong dort unlängst ausgelöst hat. Die Menschen standen beispielsweise stundenlang an, um das von einer Immobilienfirma gesponserte Showturnen mit Marcel Nguyen zu sehen. „Diese Reise war ein Höhepunkt in meinem Leben“, sagt der Turner, der sich die asiatische Begeisterung auch mit seinen Wurzeln erklärt. Der Vater von Marcel Nguyen ist Vietnamese, der während des Studiums in Deutschland seine Frau kennenlernte. „Meine Eltern sind nicht die typischen überehrgeizigen Turneltern, meine Mutter ist mit mir ins Kinderturnen gegangen, das war’s dann auch.“

In Stuttgart fiel er einst durch

Marcel Nguyen ist stolz auf seine Familie, auch weil sie eine „angenehme Coolness“ hat, wie er sagt. Sie hat ihn „einfach machen lassen, und sie dreht jetzt auch nicht nach den Erfolgen durch“. Das färbt offenbar auf Marcel Nguyen ab. In gutbürgerlichen Verhältnissen ist er im Münchner Vorort Unterhaching aufgewachsen. Der Vater arbeitet dort als Finanzberater, die Schwester schreibt gerade an ihrer Doktorarbeit in Biochemie.

Endstation Degerloch, alle aussteigen. Fast alle. Marcel Nguyen bleibt natürlich sitzen, um auf der Talfahrt über seine Tiefpunkte zu sprechen. Da wäre das gebrochene Bein unmittelbar vor den Weltmeisterschaften 2010 in Rotterdam. Glatt durch, nach einem Doppelsalto und der Dreifachschraube bei der Landung am Boden.

Durchhänger nach Olympia

Weit mehr aber beschäftigt ihn noch sein erster Versuch, am Olympiastützpunkt in Stuttgart Fuß zu fassen. Damals war er 17, und die Umstellung von der Münchner Ganztagsschule auf das Stuttgarter Wirtemberg-Gymnasium wollte nicht so recht klappen. Marcel Nguyen trat den Rückzug an. In München lief dann bis zum Abitur wieder alles nach Plan, auch dank der Unterstützung vom Rektor des Isar-Gymnasiums. „Herr Huber – guter Mann“, sagt Marcel Nguyen.

Aber auch nach Stuttgart kehrte er zurück, und unter dem Trainer Valeri Belenki begann die Erfolgsgeschichte, die in London mit zwei Silbermedaillen gekrönt wurde. Doch Olympia hatte nicht nur positive Begleiterscheinungen. „Als es dann wieder mit dem Training losging, hatte ich einen ganz schönen Durchhänger. Mir fehlte die Motivation“, sagt der Stabsgefreite der Sportförderkompanie in Todtnau, wo er allerdings eher selten anzutreffen ist. Trainingsaufwand und der zu erwartende Wettkampfertrag waren für ihn zunächst schwer in Einklang zu bringen. Die nächsten Olympischen Spiele 2016 in Rio waren plötzlich sehr weit weg, ebenso wie eine weitere Medaille mit dann 29 Jahren.

„Das war doch dieser bekannte Turner“

Aber irgendwann war der Spaß am Turnen wieder da. Hinzu kam auch so etwas wie die Genugtuung, von Sold, Preis- und Sponsorengeldern inzwischen auch ganz gut leben zu können.

Zurück am Marienplatz. Raus aus der Zahnradbahn, rein ins benachbarte Café Kaiserbau und noch ein bisschen plaudern über Marcel Nguyens Zypernurlaub oder das komplizierte Wertungssystem im Kunstturnen. Abgang Marcel Nguyen. Das Training ruft. „Das war doch dieser bekannte Turner“, heißt es am Nebentisch, der zur Mittagszeit auch deutlich jünger besetzt ist als die Zahnradbahn.