Vertreter aus der ganzen Welt gedachten in Yad Vashem der Befreiung des KZ Auschwitz. Erstmals durfte dort das Staatsoberhaupt aus dem Land der Täter reden: Bundespräsident Steinmeier.

Jerusalem - Es ist leer auf den sonst so quirligen, lauten Straßen Jerusalems, die Schaufenster der Läden sind dunkel. Die hier allgegenwärtige Sorge vor einem Angriff lässt die Stadt erstarren: 10 000 Polizisten sind am Donnerstag im Einsatz, über der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem herrscht Flugverbot, und keiner, der sich rundherum bewegt, ist nicht irgendwo registriert, gecheckt, unter Beobachtung. Wehrhaftigkeit und Schutz: Dies ist die Art, wie Israel mit der bitteren Lektion umgeht, dass es damals wie heute immer genügend Gegner gibt, die am liebsten alle Juden ausrotten würden.

 

An diesem Tag gilt die Sicherheit dem größten Staatsereignis, das Israel seit seiner Gründung jemals ausgerichtet hat: In Yad Vashem kommen in diesen Minuten 40 Staatsoberhäupter zusammen, um an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 75 Jahren zu erinnern. Die Zeremonie beschränkt sich nicht auf ein stilles Gedenken mit Kränzen und Trauer um die Toten der Vergangenheit – denn die Vergangenheit ragt in die Zukunft hinein: Die Welt erlebt eine globale Welle von Antisemitismus. Gleich sechs Staatenlenker sprechen hier über die Frage, was die Welt dagegen ausrichten kann, und die Gemeinsamkeiten sind groß.

„Die Täter waren Menschen. Sie waren Deutsche.“

Keiner von ihnen wird mit einer vergleichbaren Schwere im Herzen am Pult stehen wie Frank Walter Steinmeier – als erstes deutsches Staatsoberhaupt überhaupt darf er in Yad Vashem eine Rede halten, und er wählt dafür nicht seine Sprache, die Sprache der Täter. Sondern er beginnt auf hebräisch und spricht auf englisch weiter – mit demselben Tora-Zitat, mit dem der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel zwanzig Jahre zuvor im Bundestag seine Rede begonnen hatte: „Gepriesen sei der Herr, dass er mich heute hier sein lässt.“

Steinmeier hat nur sieben Minuten, um eine Rede zu halten, die sicher die heikelste seiner Amtszeit ist – und vielleicht die wichtigste werden wird. Er nennt Namen – vier von sechs Millionen jüdischen Opfern, die hier in Yad Vashem genannt werden. Sein Bekenntnis zur Schuld könnte nicht deutlicher und absoluter ausfallen: „Deutsche haben ihnen Nummern auf die Unterarme tätowiert. Deutsche haben versucht, diese Menschen zu entmenschlichen, zu Nummern zu machen, im Vernichtungslager jede Erinnerung an sie auszulöschen“, sagt Steinmeier, und weiter: „Die Täter waren Menschen. Sie waren Deutsche. Die Mörder, die Wachleute, die Helfershelfer, die Mitläufer: sie waren Deutsche.“ Es seien seine Landsleute gewesen, die „das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte“ verübt hätten. Als Präsident stehe er „beladen mit großer historischer Schuld“.

Antisemitismus im Deckmantel

Steinmeier hat sich offenkundig vorgenommen, es an keiner Stelle an Klarheit fehlen zu lassen, und er nutzt die unabdingbaren Botschaften von Dankbarkeit und Schuld wie ein Katapult in die Gegenwart: „Weil ich dankbar bin für das Wunder der Versöhnung, stehe ich vor Ihnen und wünschte, sagen zu können: Unser Erinnern hat uns gegen das Böse immun gemacht.“

Dabei, so Steinmeier, prüfe die Verantwortung für das Damals die Deutschen hier und heute. „Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr antisemitisches, ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Antwort für die Zukunft, als neue Lösung für die Probleme unserer Zeit.“

Er könne nicht sagen, so Steinmeier, dass die Deutschen für immer aus der Geschichte gelernt hätten, wenn jüdische Kinder auf dem Schulhof bespuckt würden, wenn Antisemitismus im Deckmantel der Israelkritik daherkomme – und wenn nur eine schwere Holztür ein Blutbad in der Synagoge von Halle verhindere.

Bemerkenswerte Gedenkwoche

Es sind wenig optimistische Worte für ein Staatsoberhaupt im Mittelpunkt dieser Rede: „Unsere Zeit ist nicht dieselbe Zeit. Es sind nicht dieselben Worte. Es sind nicht dieselben Täter. Aber es ist dasselbe Böse.“ Seine Antwort darauf ist unmissverständlich – er verspricht „vor den Augen der Welt“, jüdisches Leben zu schützen, den Antisemitismus zu bekämpfen und dem Nationalismus zu trotzen – er nennt ihn „Gift“.

Es ist der Auftakt einer bemerkenswerten Gedenkwoche, deren wichtige Stationen israels Staatspräsident Reuven Rivlin und Steinmeier gemeinsam bewältigen. Gemeinsam werden sie am Montag in Auschwitz sein, beide sprechen dann am Mittwoch im Bundestag. In Israel allerdings, das ist in Jerusalem spürbar, liegt die Aufmerksamkeit viel weniger darauf, was der deutsche Präsident sagt. Bei der Zeremonie in Yad Vashem liegt der Focus neben der Betonung der internationalen Gemeinschaft vor allem auf den russisch-israelischen Beziehungen.

Einen brennenden Appell formuliert Israels Präsident Reuven Rivlin. „Antisemitismus hört nicht bei den Juden auf“, sagte er. Antisemitismus sei „eine Krankheit, die Gesellschaften zerstückelt“, sagt Rivlin zu Beginn der Zeremonie. Rivlin forderte die internationale Gemeinschaft auf, gegen radikale Kräfte zu stehen wie „eine feste Wand zugunsten der Menschenrechte“.

Die Staatschefs müssen warten

An der Wehrhaftigkeit seines Landes, das sich „immer selbst verteidigen“ werde, lässt er ebenso wenig Zweifel wir Ministerpräsident Benjamin Netanyahu. Die Tore der Hölle seien in Auschwitz zu spät geöffnet worden, sagt dieser. „Die Welt kehrte uns den Rücken und überließ uns unserem Schicksal.“ Heute hätten die Juden „ein Land, eine Stimme, einen Schutzschild“, sagt Netanjahu an die Adresse von Iran.

Es gelingt Russlands Staatspräsident Wladimir Putin an diesem Tag, die ehemalige Sowjetunion mit ihre Roten Armee sowohl als Retter als auch die sowjetische Bevölkerung als Opfer der Nationalsozialisten in den Mittelpunkt zu rücken. Bevor die Feierlichkeiten überhaupt beginnen können, lassen der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Putin die anderen drei Dutzend Staatschefs mehr als eine Stunde warten: Sie müssen noch, kurz vor Beginn der Feier, ein Denkmal für das belagerte Leningrad einweihen.