Beim Hospizfachtag in Stuttgart vergewissern sich die Teilnehmer erneut ihrer gesellschaftlichen Bedeutung angesichts der Herausforderungen des demografischen Wandels. Aber auch im Kontext des aktuellen BVG-Urteils zur geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gaben sie pragmatische Antworten.

Stuttgart - Den Blick über Grenzen wagen: Diesen Vorsatz hatte der diesjährige Fachtag der Elisabeth-Kübler-Ross-Akademie des Hospiz Stuttgart. Etwa 600 Hospizler, Haupt- und Ehrenamtliche, ließen sich im Hospitalhof darauf ein. Denn viele Entscheidungen in der Sterbebegleitung oder im palliativen Bereich liegen in Grenzbereichen. Oder wie es so schön heißt: Jedes Sterben ist anders. Im Grunde hat der Fachtag damit die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung mit dieser Gewissheit über das individuelle Sterben vorweggenommen.

 

Wenn man so will, wird in den Hospizen und Stationen längst gelebt, was auch die Richter in Karlsruhe mit ihrem Urteil ausdrücken. Es gibt im Umgang mit Sterben oder dem Todeswunsch eines Patienten kein Schwarz oder Weiß. Vielmehr gelte es laut der Palliativ-Care-Expertin Dr. Susanne Hirsmüller von der Uni Freiburg, einen „toleranten Umgang mit so schwierigen Meinungen in der Gesellschaft“ zu finden: „Selbst die gesamte Hospiz- und Palliativbewegung lässt sich nicht in einen Topf stecken.“

Auch Susanne Haller, Leiterin der Akademie am Hospiz Stuttgart, sieht es so: „Der Todeswunsch eines Schwerstkranken ist nicht absolut und ausschließlich zu sehen, sondern kann durchaus Ausdruck einer Ambivalenz sein.“ Soll heißen: Für Palliative-Care-Mitarbeiter ist ein Wunsch nach einem vom Leid erlösenden Tod und der Umgang damit „ein Sinnbild der täglichen Arbeit, die sehr individuell und vielfältig ist“ (Hirsmüller). Was damit gemeint ist, bezeichnet Susanne Haller als Auftrag, „einen Raum für tabufreie Gespräche zu schaffen“. Denn häufig sei einem Todeswunsch auch der Wunsch nach einem würdevolleren Umgang und nach Autonomie verborgen. Beispielsweise der Wunsch nach wärmeren Wasser oder nicht täglich denselben Brei essen zu müssen. „Es geht den Gästen dann in erster Linie darum, zu sagen: So wie jetzt wollen wir nicht weiterleben“, erklärt Haller.

Was, wenn das Leben zur Qual wird?

Allerdings kann selbst die beste Ummantelung, was palliativ im Wortsinn bedeutet, den einen oder anderen Todeswunsch nicht auflösen. Wenn das Sterben zu einer untragbaren und unfassbaren Qual wird, stehen Mediziner, Hospizler und der Kranke vor neuen ethischen Entscheidungen. Vor neuen Grenzsituationen, die alle bisherigen Erfahrungen aller Beteiligten übersteigen und laut Hirsmüller eine „ethische Reflexion“ auslösen. Also die Frage, was ist in dieser Situation die ethisch begründbar richtige Reaktion. Und auch hier gilt laut Susanne Hirsmüller erneut: „Es gibt nicht die eine und einzige richtige Antwort. Es geht immer darum abzuwägen.“ Und zwar nach folgenden vier Kriterien: Respekt vor der Autonomie des Kranken, nach den Aspekten der Fürsorge und des Wohlfühlens, dem nicht schaden wollen und der Maxime der Gerechtigkeit.

In der Praxis kommt es für die Hospiz- oder Palliativmitarbeiter meistens auf ganz andere Dinge an: auf das Aushalten von Leid und Trauer. „Wir müssen uns sicher sein, dass die Gesellschaft auch Schwerstkranke, behinderte, alte und multimorbide Menschen tragen und leisten kann“, sagt Susanne Haller, „und das können wir.“ Wie wichtig dieses Vertrauen in die Kompetenz und das Fassungsvermögen von Palliativ-Care-Teams ist, zeigt ein Satz des 2010 verstorbenen Regisseurs Christoph Schlingensief, den Haller zitierte: „Man will ja tapfer sein, aber man braucht dafür das Gefühl, dass diejenigen, in deren Hände man sich begibt, alles vom im Griff haben.“

Darin zeigt sich für Susanne Haller der Wert und der Anspruch der Hospiz- und Palliativversorgung, die angesichts der demografischen Entwicklung, künftig immer bedeutender wird: „Es geht in erster Linie darum, innezuhalten, Leid auszuhalten und Haltung zu zeigen. Genau das sind wir den betroffenen Menschen schuldig.“