Immer mehr Kinder können gegen Ende der Grundschulzeit nicht richtig lesen. Experten nennen die Entwicklung „alarmierend“. Wer kaum lesen kann, dem fehlt die wichtigste Grundlage für die weitere Schulzeit mit entsprechend schlechten Zukunftsaussichten.

Jeder vierte Viertklässler in Deutschland droht wegen großer Schwächen beim Lesen im weiteren Schulverlauf abgehängt zu werden oder zu scheitern. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler in dieser Altersklasse, die nicht richtig lesen können, hat einer Studie zufolge in den vergangenen Jahren stark zugenommen. 25 Prozent erreichen demnach nicht das Mindestniveau, das nötig wäre für die Anforderungen im weiteren Verlauf der Schulzeit. International liegen die Grundschüler in Deutschland bei der Lesekompetenz nur im Mittelfeld.

 

Nachzulesen ist das in der am Dienstag in Berlin vorgelegten internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu), die alle fünf Jahre die Lesekompetenz von Viertklässlern in Deutschland und mehr als 60 Ländern und Regionen testet und miteinander vergleicht. Die Autorinnen und Autoren bezeichnen den Anteil der leseschwachen Schüler als „alarmierend hoch“. Bei der vorherigen Iglu-Erhebung, die Ende 2017 veröffentlicht wurde, lag er noch bei 19 Prozent - und auch damals waren alle Alarmlampen schon angegangen.

Ergebnisse seien „alarmierend“

Die betroffenen Schüler würden in ihrer weiteren Schullaufbahn „erhebliche Schwierigkeiten in fast allen Schulfächern haben“, sofern sie den Rückstand nicht aufholen könnten, heißt es in der Studie. Der deutschen Bildungspolitik stellt sie ein schlechtes Zeugnis aus: Die von der Kultusministerkonferenz (KMK) vor mehr als 20 Jahren im Zuge des sogenannten Pisa-Schocks formulierten Ziele für die Weiterentwicklung der Bildung in Deutschland seien an vielen Stellen verfehlt worden.

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger bezeichnete die Ergebnisse ebenfalls als „alarmierend“. Gut lesen zu können sei eine der wichtigsten Grundkompetenzen und das Fundament für Bildungserfolg, sagte die FDP-Politikerin. Die Studie zeige, dass dringend eine „bildungspolitische Trendwende“ nötig sei.

Iglu bestätigt andere Studien

Die Befunde von Iglu reihen sich in die schlechten Ergebnisse anderer Bildungsstudien ein: 2022 hatte der IQB-Bildungstrend, eine ebenfalls regelmäßige Test-Reihe unter Viertklässlern, gezeigt, dass diese in den sogenannten Basiskompetenzen in Mathe und Deutsch in den vergangenen Jahren deutlich zurückgefallen sind.

Außerdem wird auch hier der altbekannte Befund anderer Studien bestätigt: Kinder aus privilegierten Elternhäusern haben bessere Chancen auf Bildungserfolg als andere Kinder. Im 20-Jahre-Trend zeige sich weder eine Verstärkung noch Reduzierung dieses Problems. Es habe sich im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit „praktisch nichts verändert“, lautet das Fazit der Wissenschaftler.

4600 Schüler getestet

Die Iglu-Tests werden seit 2001 alle fünf Jahre gemacht. Verantwortlich ist das Institut für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund. Bundesländer und Bundesbildungsministerium fördern das Projekt. Die aktuelle Erhebung stammt von 2021. Teilgenommen hatten rund 4600 Schüler aus 252 vierten Klassen in Deutschland. Insgesamt waren es rund 400 000 Schüler aus 65 Staaten und Regionen. Die Kinder bekamen jeweils Sach- und Erzähltexte vorgelegt und mussten dazugehörige Verständnisaufgaben am Laptop lösen.

Was es bedeutet „nicht richtig“ lesen zu können

Die Schüler erreichen je nach Ergebnis eine von fünf sogenannten Lesekompetenzstufen. Landen sie in den unteren beiden Kompetenzstufen I und II, wird davon ausgegangen, dass sie kaum ausreichende Lesekompetenzen für das weitere schulische Lernen und die aktive Teilhabe erworben haben, also Texte nicht gut genug verstehen können, dass sie damit etwas anfangen können.

Deutschland verschlechtert sich zum dritten Mal in Folge

Den Spitzenplatz in der Iglu-Studie belegt Singapur mit 587, ganz hinten steht Südafrika mit 288 Punkten. Die Viertklässler in Deutschland landen mit 524 Punkten im internationalen Lese-Vergleich im Mittelfeld, etwa im EU- und OECD-Schnitt. Nach anfänglicher Verbesserung Mitte der 2000er Jahre ist der Wert nun zum dritten Mal in Folge auf seinen bisher niedrigsten Stand gesunken. Singapur oder Länder wie Russland oder Slowenien konnten in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich zulegen. „In Deutschland, den Niederlanden und Schweden zeigt sich hingegen eine problematische Entwicklung“, heißt es in dem Bericht.

Verschiedene Ursachen

Für einen Teil der Entwicklung machen die Wissenschaftler die Corona-Einschränkungen an den Schulen verantwortlich. Daneben sei auch die Zusammensetzung der Schülerschaft ein Thema, sagte Iglu-Studienleiterin Nele McElvany am Dienstag. „Wenn die Familiensprache eben nicht deutsch ist, ist das für die Grundschule eine andere Fördersituation (...)“. Ein weiterer möglicher Anhaltspunkt könne auch sein, dass in deutschen Grundschulen im Schnitt etwa 60 Minuten weniger pro Woche mit Leseunterricht und „lesebezogenen Aktivitäten“ verbracht würden als im EU- und OECD-Schnitt.

Mehr Lesen in der Schule und frühes Fördern

Das Iglu-Forscherteam rät zu einer „klaren Prioritätensetzung“ in den Grundschulen und empfiehlt mehr lesebezogene Aktivitäten im Unterricht, Aufholunterricht in Kleingruppen sowie individuelle Unterstützung und wirbt außerdem für eine frühe Sprachförderung. Als Positivbeispiel wird Singapur angeführt, wo etwa eine flächendeckende Testung von Lesefähigkeit und „Vorläuferfähigkeiten“ zum Beginn der ersten Klasse und eine gezielte Förderung eingeführt worden sei.

Bei all dem Schatten gibt es in der Iglu-Studie auch etwas Licht. Die Kinder wurden nicht nur getestet sondern auch befragt. Dabei kam heraus, dass die Lesemotivation weiterhin hoch ist und dass sie gerne in die Schule gehen. Das sei ein Pfund, sagte McElvany. Denn „Schulzufriedenheit“ und „Schulfreude“ sind der Studie zufolge ebenfalls relevant für schulischen und beruflichen Erfolg.