Igor Levit hat viele Gesichter. Er sucht die Heraus- und Überforderung, liebt Rapmusik und hat jetzt eine neue 3-CD-Box mit zwei monumentalen Klavierzyklen des 20. Jahrhunderts veröffentlicht.

Berlin - Er hat’s schon wieder getan. Mit seinem neuen CD-Album „On DSCH“ (bei Sony) untermauert der Pianist Igor Levit (34) wieder seinen Beruf als Marathon-Mann unter den Tastenvirtuosen: Der monumentale Zyklus von Dmitri Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen, den er in dieser Saison auch in Stuttgart vorstellen wird, ist hier kombiniert mit einem nicht minder gigantischen Opus, der 1963 entstandenen „Passacaglia on DSCH“ des heute kaum mehr bekannten schottischen Komponisten Ronald Stevenson. Solche Musik in einer 3-CD-Box herauszubringen, wäre normalerweise unternehmerischer Kamikaze. Mit Levit aber gibt’s kein Risiko. Wo sein Name drauf steht, verkauft sich selbst Sperriges wie geschnitten Brot.

 

Beide Zyklen, der eine zweieinhalb, der andere eineinhalb Stunden lang, beide hochkomplex und hochvirtuos, hat Levit auch schon im Konzert vorgestellt, denn er liebt die körperliche Grenzerfahrung. Wie weit er diese auszureizen bereit ist, hat besonders eindrucksvoll seine Aufführung von Eric Saties „Vexations“ während des ersten Corona-Lockdowns im Mai 2020 bewiesen: Gut 15 Stunden hat er da am Klavier gesessen und schier unermüdlich die 840 Variationen gespielt, die Satie auf sein schlichtes Thema folgen lässt. Ein Kraftakt war auch die Gesamtaufnahme sämtlicher Beethoven-Klaviersonaten. Und an anspruchsvollen musikalischen Zyklen (von Bachs „Goldberg-Variationen“ über Beethovens „Diabelli-Variationen“ bis hin zu Frederic Rzewskis „The People united will never be defeated“) hat sich Levit ohnehin stets mit Vorliebe abgearbeitet.

Klassik-Künstler mit Liebe zum Hip-Hop

Privat hört Levit aber auch gern Hip-Hop. Die Westcoast-Szene der USA, hat er jüngst in einem Interview gesagt, habe ihn „extrem geprägt“, also die Rapper Dr. Dre, Eminem, Tupac und LL Cool J. . Unter den Jüngeren finde er Chance The Rapper „einfach sensationell“, und „das letzte Nas-Album ist der Hammer“. Dieser Leidenschaft war es wohl auch zu verdanken, dass der Pianist im April gemeinsam Daniel Pongratz alias Danger Dan (38) vom Trio Antilopen Gang in Jan Böhmermanns „ZDF Magazin Royale“ auftrat.

Auch dies zeigt: Igor Levit ist kein Künstler der Marke „Aus der Zeit gefallen“, sondern steht mit beiden Beinen im Leben. Und versteht sich als sehr politischer Mensch. Kunst und Politik, betont er immer wieder, ließen sich bei ihm nicht trennen, und auch beim Musizieren „verhandle ich, was ich in der Welt sehe“. So sei Ronald Stevensons Passacaglia „wahrscheinlich die internationalste Klaviermusik, die ich kenne. Es bereist und umarmt ja tatsächlich die ganze Welt, von Kontinent zu Kontinent“. Levit ist Mitglied der Grünen, kämpft in den sozialen Medien aktiv für Menschenrechte, Klimaschutz und gegen Rechtsradikale. Dafür ist ihm 2020 sogar das Bundesverdienstkreuz verliehen worden; weitere Auszeichnungen stehen in Aussicht.

Aktuell diskutiert Levit auf Twitter über die Politik vor der Bundestagswahl

Allein auf Twitter hat Igor Levit aktuell etwa 157 000 Follower. Weil ihm auf dieser „Inspirations-Plattform“ extrem viel Hass entgegenschlug, hat er seinen Account dort zwar für eine Weile ruhen lassen, aber seit einigen Wochen ist er wieder da – allerdings nicht nur um zu diskutieren (aktuell vor allem über Politik vor der Bundestagswahl) , sondern vor allem auch, um mit dem Publikum in Kontakt zu sein, für das er in Corona-Tagen zwei Monate lang täglich Hauskonzerte aus seinem Wohnzimmer streamte. In Spitzenzeiten haben 300 000 Menschen dabei zugehört – trotz miserabler technischer Qualität. Levit braucht Resonanz, als Künstler wie als Mensch. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse des Buches, das Florian Zinnecker jüngst über den Künstler geschrieben hat. Ein sehr besonderes Levit-Zitat aus „Hauskonzert“ (Hanser-Verlag) bleibt ebenfalls im Hirn, weil sich hier der Künstler auf so treffende Weise selbst beschreibt: „Mich interessiert allein, wie ich es hinkriege, nach mir selbst zu klingen.“