Die Rituale von Reutlingen, Ulm und Esslingen sind Immaterielles Kulturerbe. Die Rathauschefs freuen sich, sehen aber kaum Möglichkeiten der touristischen Vermarktung.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Reutlingen/Esslingen/Ulm - Ein Gläschen Sekt, vor Kameras geschwenkt bei einer virtuellen Zusammenkunft – mehr ist pandemisch bedingt am Freitag nicht drin zur Feier des Siegels „Immaterielles Kulturerbe“. Errungen haben es die Städte Reutlingen, Esslingen und Ulm für ihre mehrere hundert Jahre zurückreichenden jährlichen Schwörtraditionen. Diese demokratischen Bräuche stehen künftig im Bundesweiten Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes. Ausgewählt hatte die Deutsche UNESCO-Kommission. Auch der Streuobstanbau in Deutschland schaffte es dieses Jahr ins Verzeichnis.

 

Die Oberbürgermeister aller drei ehemaligen schwäbischen Reichsstädte zeigen sich geehrt. Der Reutlinger Oberbürgermeister Thomas Keck (SPD) will die Schwörtagstradition in seiner Stadt nun „weiterentwickeln“. Sein Esslinger Amtskollege und Parteifreund Jürgen Zieger sagt, die jährlichen Schwörfeiern trügen mit ihrer Ausstrahlung dazu bei, „dass neonazistische Parteien bei den Kommunalwahlen bei uns keine Chance haben“. Für Gunter Czisch (CDU), Rathauschef in Ulm, kommt die Auszeichnung angesichts des wachsenden Nationalismus im Ausland und dem Aufblühen von Corona-Verschwörungstheorien im Inland zur rechten Zeit. „Wir müssen uns mehr denn je unserer demokratischen Traditionen versichern.“

Dieses Jahr wieder eine große Flaute

Doch auch in diesem Jahr gibt es coronabedingt keine großen Schwörfeiern, erst vor wenigen Wochen wurden sie abgesagt. Zuerst hatte Ulm seine Feier gestrichen, zumindest was den Party- und Feierteil anbelangt, vor allem den Wasserumzug „Nabada“ mit seinen bis zu 100 000 Teilnehmern. Gerade für die örtliche Gastronomie ist das ein harter Schlag. Schon im vergangenen Jahr war Czisch lediglich vor rund 150 Leuten auf dem Schwörbalkon im Weinhof gestanden: alles Sitzplätze mit Hygieneabstand, viele davon im Vorfeld an Interessierte verlost. Möglich, sagt Czisch jetzt, dass so etwas diesen Sommer nochmals gemacht wird. Reutlingen wird wohl nur den traditionellen Freitagsvortrag am Schwörwochenende zulassen und dazu die grüne Landtagspräsidentin Muhterem Aras einladen. Esslingen wagt gar keine größeren Zusammenkünfte in der Innenstadt.

Das Immaterielle Kulturerbe ist nicht zu verwechseln mit dem UNESCO-Weltkulturerbe. Zu letzterem gehören ausschließlich global bedeutende Baudenkmäler, Stadtensembles, Kultur- oder Naturlandschaften. Die Steigerung des deutschen immateriellen Kulturerbes in den Weltmaßstab wäre das UNESCO-Siegel „Immaterielles Kulturerbe der Menschheit“. In diese Ausscheidung gehen die württembergischen Städte nun auf jeden Fall, und zumindest der Esslinger OB Zieger, der sich auf der nur noch kurzen Zielgeraden seiner Amtszeit befindet, zeigt Kampfgeist: „Jetzt wollen wir Menschheits-Kulturerbe werden.“

Wiederbelebte Traditionen des Mittelalters

Die durchgehendste Schwörtradition im Land hat Ulm. Allerdings hatten die Nazis ab 1933 die Feier desavouiert und den Schwur des Rathauschefs auf Führer und Volk umgemünzt. Esslingen beschloss 1990, den alten Schwörbrauch wieder aufzunehmen, Reutlingen besann sich 2004 der historischen Tradition der demokratischen Selbstvergewisserung innerhalb der Stadtmauern.

Geholfen bei der Antragsformulierung hat den Städten vor drei Jahren Eva-Maria Seng, Professorin an der Universität Paderborn. Sie lobt die Schwörtraditionen als ideale „Auseinandersetzung mit der Geschichte“. Sie müssten jedoch stets mit neuern Elementen verknüpft werden, „um so dem Erstarren in bloßer Folklore zu begegnen“.

Pläne zur Tourismusbelebung fehlen

Das haben die drei Rathauschefs fest vor. Für Czisch braucht es dafür allerdings gar nicht allzu viel; das Ableisten des Ulmer Schwurs, „Reichen und Armen ein gemeiner Mann“ zu sein“ hat für ihn einen aus sich selbst kommenden, fast magischen Reiz. „Wenn ich die Schwörformel spreche vor tausenden von Menschen, in das Läuten der Schwörglocke hinein – es gibt kaum einen bewegenderen Moment für mich im Jahr.“

So recht ein Stoff zur Vermarktung, zur Steigerung der Einkaufskundenfrequenz oder zur Belebung der städtischen Museen, ist diese neueste Auszeichnung aber wohl nicht, schon gar kein gemeinsamer. Er habe da keine konkreten Pläne, sagt der Reutlinger OB Keck. Für ein touristisches Dreierkonzept seien die Feiern in sich wohl zu unterschiedlich. Jeder müsse „ein eigene Formel finden“, meint auch Czisch. Die Auszeichnung auf Bundesebene gebe aber „Rückwind“ beim Bemühen, gerade junge Menschen an die eigene Stadt und den demokratischen Wert zu binden.

Reicht es zum Kulturerbe der Menschheit?

Derzeit keine weiteren gemeinsamen Ziele, folglich auch kein Budget für Weiteres: Für die Bewerbung für die Liste Kulturerbe der Menschheit dürfte das schwerlich reichen. Einen Beschluss gibt es aber doch: Wenn die Pandemie vorbei ist, wollen die Rathauschefs ganz real zusammen anstoßen.