Vom Maxim übers Roxy bis zum Mono – seit 1986 prägt Jens Herzberg als DJ das Stuttgarter Nachtleben und postet nun alte Fotos davon. In der Corona-Krise blickt man gern zurück. Als er Musik streamte, wollte die Polizei eine Party stoppen. Nur einer war im Keller.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - In seiner langen Laufbahn hat Jens Herzberg, der das ist, was meine eine DJ-Legende nennt, sehr viel Verrücktes erlebt. Als er in den 1980ern damit begann, Schallplattenkisten zu schleppen und die Scheiben analog in Discos aufzulegen, wie die heutigen Clubs damals hießen, herrschte kalter Krieg. Sehr viele hatten Angst vor Atomwaffen und demonstrierten mit Menschenketten dagegen. Heute haben die Menschen Angst vor dem Corona-Virus und dürfen sich nicht mehr an den Händen fassen. Was damals auf ein angstbeladenes Jahrzehnt folgte, war eine unbeschwerte Zeit. „Die 1990er waren goldene Jahre“, erinnert er sich, „jeder dachte, alles wird gut.“

 

Daheim in seinem Keller spielt der 54-Jährige sonntags um 19 Uhr Musik der 1990er Jahre digital, auf dass auch jetzt alles wieder gut werde. Live wird der DJ-Auftritt auf seiner Facebook-Seite gestreamt. Kürzlich war bei ihm Techno-Nacht. Weil Herzberg so gut drauf war, gab er sich bei Lichtblitzen und Nebel die volle Dröhnung – bis die Polizei kam. Nachbarn hatten die Beamten alarmiert. Die dachten, sie müssten eine illegale Clubparty stoppen. Doch nur ein einziger Mann war ganz allein in seinem Keller – Hunderte folgten ihm daheim im Netz.

In der Corona-Krise ist es ein Trend, Erinnerungen zu teilen

Da keiner mehr raus darf und neue Dinge erleben kann, ergötzen sich viele gerade digital an der Vergangenheit. In der Corona-Krise ist es zum Trend geworden, Erinnerungen zu teilen. Man kramt in seinen Fotokisten und Alben, scannt die Dokumente der eigenen Jugend ein und tauscht auf dem digitalen Kanal die Erlebnisse von einst mit den anderen aus, die auch daheim bleiben müssen.

Jens Herzberg, genannt „Il Capitano“, hat viel erlebt. Wo er überall am DJ-Pult stand? „Vom Roxy über das Nachtwerk, die Röhre, das Zollamt bis zum Beatclub, Kellerklub, Universum und Mono, um nur einige zu nennen“, lautet die Antwort. Gern spricht er über seine Highlights: „Neben dem Nachtwerk war dies der Beatclub oben an der Schulstraße, vor allem morgens früh von 5 bis 7 Uhr, wenn nur noch die letzten Hundert wegen der Musik geblieben sind, nicht weil es schick oder angesagt war. Im Mono im Sommer bei draußen 35 Grad drinnen die 1990er-Party zu machen, das war auch sehr nice. Ein Feeling wie im Tropenhaus der Wilhelma!“

„Morgens kamen die Huren und Zuhälter“

Nicht vergessen hat er, wie aus den Clubs Cin-Cin, Tanzpalast und Rockpalast Anfang der 1990er das Nachtwerk geworden ist. „Es war die große Zeit des Cluberwachens in Stuttgart“, erzählt er, „nachdem jahrelang nur wenige Clubs den Ton angaben, machten immer mehr Läden auf und das Nachtleben interessant.“ Herzberg erinnert sich an die Eröffnung des Nachtwerks: „Die Stadtmagazine ‚Lift’ und ‚Prinz’ hatten unsere erste Nacht groß angekündigt. Um 21 Uhr stand eine Schlange und musste warten. Denn drinnen mussten alle noch mit anpacken: Schweißen, vorbereiten, streichen, nichts war fertig. Um 22 Uhr haben wir endlich geöffnet, und die Masse strömte, wie von da an für Jahre. Von 20 Uhr bis 7 Uhr war’s immer rappelvoll, das wäre heute undenkbar. Es war die Zeit von Snap, Sven Väth, den Red Hot Chilli Peppers und der Fantastischen Vier. Morgens kamen in Schichten Huren und Zuhälter. Das Nachtwerk war für einige Jahre der coolste Club der Stadt. Es war das Lebenswerk von Andi Hess, der 1995 leider noch während der Laufzeit des Nachtwerks gestorben ist.“ Die „gesamte Stadt“ sei bei der Beerdigung gewesen.

Herzberg ist der Erfinder von „Sing du Sau“

Herzberg hat die durchgeknallte Partyreihe „Sing du Sau“ vor über 15 Jahren im Schlesinger gegründet. Dort erhalten diejenigen den stärksten Beifall, die am peinlichsten sind. Der Mut der falschen Töne wird belohnt.

Das Roxy an der Königstraße 51 spielt eine wichtige Rolle in seinem Leben. Hier lernte er seine Frau Birgit Herzberg-Jochum, eine Künstlerin, 1989 kennen. „Nachdem wir aus dem alten Maxim an der Olgastraße rausmussten, wo ich auch noch ein halbes Jahr aufgelegt habe, hatten die beiden Chefs Andi Hess und Thommy Lehrer die Idee, die DJs komplett ins Roxy mitzunehmen“, erzählt der 54-Jährige, „zu der Zeit war das Roxy erfolglos und leer.“ Dies änderte sich nach der Übernahme rasch. „Dieser Club wurde zum Hotspot, samstags gab’s einen Durchlauf von über 2000 Gästen.“ Getanzt wurde zu Wave, Rock und Pop.. Berüchtigt waren die Bukowski-Partys, bei denen es Bier aus der Dose gab und Sexfilme auf Röhrenfernsehgeräten liefen.

„Unfassbar sind die Zeiten jetzt“

Zum Zehnjährigen ihres ersten Treffens haben Jens und Birgit 1999 geheiratet – noch heute sind sie zusammen. Als freier DJ kann Herzberg nun seit einigen Tagen nicht mehr arbeiten und Geld verdienen. Doch aufhören mit dem, was er am liebsten tut, will er nicht. Deshalb überträgt er auch ohne Entlohnung Musiknächte aus seinem Keller. „Unfassbar“, sagt er, „sind die Zeiten jetzt“. Niemals hätte er gedacht, dass so etwas jemals kommen werde. An der Musik richtet sich der DJ auf, wie schon immer in seinem Leben. „Noch immer macht es mir riesig Spaß, aufzulegen“, freut er sich, „das bringt mir Spaß wie in jungen Jahren und geht nie weg.“