Am Montag öffnet die Industriemesse in Hannover ihre Pforten. 6500 Unternehmen wollen sich präsentieren, 150 davon aus dem diesjährigen Partnerland Polen. Wegen der niedrigen Löhne gilt das Land als verlängerte Werkbank der deutschen Industrie. Doch Polen holt auf.

Warschau - Sechs Männer sitzen am Tisch in der Produktionshalle. Ein Wust von Kabeln liegt vor ihnen – rote, blaue, gelbe, grüne. Die Männer fertigen Kabelbäume, sie kombinieren und verklammern die Kabel – und binden sie zu einem dicken Strang zusammen. Einer der Männer hält ein Bündel in die Höhe: Zwei Stunden habe er daran gearbeitet, sagt er stolz. Die Kabelbäume werden später für ein reibungsloses Funktionieren der Züge von Newag sorgen, einer der großen polnischen Zughersteller. 20 bis 30 Kilometer sind die Kabelstränge lang, die sich durch einen einzigen Zug ziehen.

 

Das Schnüren von Kabelbäumen ist bei Newag Handarbeit. Gegen eine Automatisierung sprechen vor allem zwei Gründe: Die Vielfalt der Produkte ist groß und die jeweiligen Stückzahlen sind klein. Da ein Facharbeiter in Polen aber durchschnittlich nur knapp 1000 Euro im Monat verdient, fallen die Kosten für Handarbeit kaum ins Gewicht. Rund ein Viertel der gesamten Kosten für einen Zug sind Arbeitskosten.

Tradition auf Gleisen

Newag gehört zu den polnischen Unternehmen, die sich vom kommenden Montag an in Hannover präsentieren werden. Das polnische Unternehmen wurde 1976 gegründet und 2003 privatisiert. 2008 wurde der erste elektrische Zug vorgestellt. Newag profitiert mit seinen 2000 Mitarbeitern und 250 Millionen Euro Umsatz von den Investitionsplänen der Warschauer Regierung, die das Bahnnetz modernisieren und erweitern will. Nun strebt der Zughersteller verstärkt auf ausländische Märkten – wie auch andere polnische Betriebe.

Rund 150 Unternehmen aus Polen, dem diesjährigen Partnerland der Industrieschau, wollen in Hannover dabei sein – und sich innovativ und dynamisch präsentieren. Der Busproduzent Ursus gehört dazu, der mit Elektrobussen punkten will. Auch der Elektronikhersteller Medcom glaubt an seine internationale Wettbewerbsfähigkeit.

„Vom Imitator zum Innovator“ – so formuliert Tadeusz Koscinski, der stellvertretende Minister für wirtschaftliche Entwicklung, das ehrgeizige Ziel. Es geht ihm um nicht weniger als um Industrie 4.0, also die Digitalisierung und Vernetzung der Wirtschaft. Das Land will in Riesenschritten bei Themen wie Elektromobilität und Automatisierung aufschließen. Deshalb wurde eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die polnische Plattform Industrie 4.0. Die Regierung in Warschau plant einen Fonds, um kreative Start-ups zu fördern. Und die polnischen Unternehmen sollen nicht nur in die EU, sondern weltweit exportieren – insbesondere auch nach Asien und in die USA. Bisher ist Deutschland der wichtigste Handelspartner des Landes.

Technologischer Spurt

Die finanziellen Voraussetzungen für den technologischen Spurt sind gegeben. Gut 82 Milliarden Euro will Brüssel bis 2020 an Polen überweisen, das Geld soll etwa in den Ausbau der Infrastruktur und in Innovationen fließen. Bereits in wenigen Jahren soll jeder polnische Haushalt einen schnellen Internetzugang haben. Nach der Wahl der rechtskonservativen Regierung in Polen waren die Unternehmer zunächst verunsichert, was sich auch in niedrigerem Wirtschaftswachstum niederschlug, doch nun ist der Optimismus in die Chefetagen zurückgekehrt.

Noch ist das Land allerdings weit von seinen ehrgeizigen Ziele entfernt. Polen, seit 2004 EU-Mitglied, gilt nicht zuletzt als verlängerte Werkbank für westliche Unternehmen, die die industrielle Erfahrung der Beschäftigten, ihre vergleichsweise niedrigen Gehälter und die räumliche Nähe zum Westen schätzen. Wer Polen bereist, dem fallen denn auch vor allem Namen ausländischer Konzerne auf: Bosch, Siemens, Samsung, Daimler, ABB, Festo, Opel – sie alle prägen nicht zuletzt mit Werbung das Straßenbild vieler Städte. Polnische Konzerne – Fehlanzeige. Das hat einen einfachen Grund: Es gibt kaum welche. Deutlich mehr als 90 Prozent der Unternehmen sind kleinste und kleine Firmen, die sich ausschließlich auf ihren Heimatmarkt konzentrieren.

Nur 13 Prozent der polnischen Mittelständler sind innovativ

Das Problem liegt aber nicht unbedingt in der Größe der Unternehmen, sondern vor allem in ihrer Innovationsfähigkeit. Nur 13 Prozent der polnischen Mittelständler bieten innovative Produkte, sagt Mariusz Olszewski, Professor für Mechatronik an der Technischen Universität Warschau. Damit liegt Polen in der EU am unteren Rand; im EU-Durchschnitt liegt der Anteil bei 31 Prozent. Der deutsche Maschinenbau kann dies bestätigen. Produkte im Wert von 2,6 Milliarden Euro hat die Vorzeigebranche im vergangenen Jahr aus Polen eingeführt; knapp 70 Prozent davon entfielen auf Teile und Komponenten.

Wie groß der technologische Nachholbedarf ist, macht Marcin Zygadło, der Geschäftsführer des Automatisierungsspezialisten Festo in Polen, an einem Vergleich deutlich: „Viele Unternehmen befinden sich hier noch auf dem Stand der Industrie 2.0.“ Das umschreibt die Anfänge der Automatisierung. Vor allem der Osten Polens ist unterentwickelt. Ein Indiz für die bestehenden Defizite ist die Roboterdichte. In Deutschland werden 292 Roboter pro 10 000 Beschäftigten eingesetzt, in Polen sind es gerade mal 22. Und wo elektronische Helfer werkeln, hat das nicht unbedingt mit Automatisierung zu tun, sondern mit menschlichen Unzulänglichkeiten. „Roboter arbeiten präziser“, sagt Frank Maier, im Vorstand des Hamelner Antriebs- und Automatisierungsspezialisten Lenze zuständig für Innovationen.

Die Hoffnung ruht auf den Mitarbeitern

Eine große Hoffnung der Polen, um innovativ vorwärtszukommen, liegt in den gut ausgebildeten Mitarbeitern. 1,4 Millionen Studierende gibt es an den 434 Universitäten, immer mehr entscheiden sich für Mint-Fächer, also für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Und dennoch wird es kaum reichen. 400 000 Fachkräfte mit Kenntnissen in Automatisierung, Informatik, Sensorik und Produktionstechnik, werden in den nächsten Jahren fehlen, schätzt der Mechatronik-Professor. Ein Grund dafür liegt in der Vergangenheit. Vor allem Hochqualifizierte haben – im Zusammenhang mit der Freizügigkeit – schon vor Jahren ihr Glück in westlichen Industrieländern wie den USA, Deutschland oder Großbritannien gesucht. Offizielle Zahlen dazu gibt es nicht. Maier erinnert sich: „Innerhalb weniger Monate haben wir ein Drittel der Beschäftigten verloren“. Nun hofft die Regierung in Warschau, dass die Ingenieure sich auf ihre Heimat zurück besinnen. Derzeit erhält ein Ingenieur etwa ein Viertel des Gehalts seines Kollegen in Deutschland. Doch mit der steigenden Innovationsfähigkeit und zunehmenden Engpässen dürfte sich dies bald ändern. Schon heute punkten ausländische Unternehmen bei polnischen Beschäftigten mit Angeboten zur Weiterbildung, mit Krediten zum Hausbau oder mit einer Krankenversicherung.