Die Gäubahn, vor allem der Abschnitt zwischen Hauptbahnhof und Rohrer Kurve, ist ein Meisterwerk der Technik. Die Bauarbeiten gingen in geradezu rasantem Tempo voran. Vor 140 Jahren wurde sie eingeweiht.

Filder - König Karl hat die Gäubahn vor den Bürgern nicht fürs Spazierenfahren auf den Weg gebracht. „Es ging ihm darum, Rohstoffe, Schlachtvieh, Baustoffe wie Holz und Waren in die Stadt zu bringen“, sagt Herbert Medek, der Leiter der Denkmalbehörde und Experte der Stuttgarter Stadtgeschichte.

 

Ganz wichtig, sagt der Experte, sei natürlich der Export von Waren des aufstrebenden Industriestandorts Stuttgart gewesen. Eine weitere wichtige Funktion war die Verknüpfung der Produktionsstätten: „Wo Schienen verliefen, haben sich schnell Gewerbegebiete gebildet.“ Man hatte damals die Bahnen nach Norden über Ludwigsburg, nach Osten über Esslingen, aber es fehlte eine in den Schwarzwald. Die Schwarzwaldbahn über Zuffenhausen, Renningen, Weil der Stadt bis Calw wurde als erste gebaut. Dafür musste ab 1863 der Stuttgarter Hauptbahnhof erweitert werden, der für das wachsende Schienennetz zu klein war. „Nach der Erweiterung konnten täglich 100 Züge verkehren“, sagt Medek.

Eisenbahnervereine fordern Strecke in den Süden, erst einmal nach Freudenstadt

Am 27. Dezember 1869 tagten in der alten Liederhalle 114 Eisenbahnervereine. Sie forderten eine Zuglinie nach Süden über Böblingen nach Freudenstadt. Es gab aber ein Problem. Der Hauptbahnhof liegt ungefähr 250 Meter über dem Meeresspiegel. Der günstigste Scheitelpunkt am Hang nach Böblingen ist an der 450 Meter hoch gelegenen Rohrer Kurve. Die Gäubahn hätte in direkter Line auf neun Kilometern Länge 200 Meter Höhenunterschied überbrücken müssen. „Die damaligen Lokomotiven hätten aber die damit verbundene Steigung nicht bewältigen können“, sagt Medek. Deshalb habe man eine Trasse angelegt, die aus dem Bahnhof herausführte, schnell anstieg, in einer großen Kurve um den Pragfriedhof herum und dann entlang der Hänge verlief, unterbrochen von zwei Tunnels, dem Kriegsbergtunnel mit 579 Metern und dem 258 Meter langen Hasenbergtunnel. Durch die vielen Kurven war die Strecke bis zur Rohrer Kurve 17,5 Kilometer lang. Sie bietet bis heute herrliche Ausblicke auf Stuttgart, weshalb sie als Panoramabahn bezeichnet wird.

Tödliches Unglück mit der Schiebelok

„Nach dem Kriegsbergtunnel hat man 15 Brücken und diverse Dämme eingebaut. Die Trasse war ein sehr anspruchsvolles Bauwerk“, bilanziert Medek. Der Zugverkehr verlief nicht immer reibungslos. „Selbst bei dem durch die längere Streckenführung bis zur Rohrer Kurve erreichten geringen Gefälle musste man neben der Lokomotive, die zog, am Ende des Zuges eine Lok zum Schieben ankuppeln.“ Mit einer solchen Schiebelock stieß am 1. Oktober 1889 im Dachswald ein Personenzug zusammen. Die Schiebelok kam fast ungeschoren davon, aber der Lokführer des Personenzugs, sein Heizer, ein Mädchen, zwei Männer und zwei Frauen, darunter die Wirtin der Brauereiwirtschaft „zum Adler“ in Vaihingen, kamen dabei um.

Am 2. September 1879 wurde der Streckenabschnitt bis Freudenstadt eröffnet. Zwei Jahre später führte die Strecke über den Knotenpunkt Eutingen nach Rottweil. „Eutingen war das Tor zur Welt, denn ab Rottweil gab es eine Zuglinie bis Zürich, und von dort ging es weiter nach Mailand“, sagt der Experte. Ein anderer Schienenstrang führte Reisende nach Straßburg. Das Gäu mit seinem Schlachtvieh, der Schwarzwald mit seinem Holz und die Industrie in Stuttgart hatten internationalen Anschluss. „Mit der Postkutsche hatte die Fahrt nach Zürich 20 Stunden gedauert. Mit der Gäubahn war man anfangs in fünfeinhalb Stunden dort. 1939, mit schnelleren Lokomotiven, dauerte die Reise vier Stunden. Wegen der vielen Kurven im Neckartal dauert die Fahrt heute immer noch drei Stunden“, sagt Herbert Medek.

Am Haltepunkt Hasenberg holt die Straßenbahn die Arbeiter aus Böblingen ab

Mit dem Zug kamen Arbeiter in die Landeshauptstadt. Für sie war der Haltepunkt Hasenberg, der spätere Westbahnhof, wichtig, besonders nachdem die Straßenbahn 14 vom Westbahnhof nach Mühlhausen dort hinfuhr. Der Andrang der Arbeiter stellte die Straßenbahnschaffner vor Herausforderungen. Einer Anekdote zufolge näherte sich ein Zug mit Arbeitern aus Böblingen. Die Straßenbahn stand parat, der Schaffner sah ihn und schrie zum Fahrer: „Karle, fahr los, se kommet.“ Er war zu faul, die vielen Fahrkarten abzuzwicken. Deshalb fuhr die Straßenbahn leer los. 1985 wurde die Haltestelle Westbahnhof geschlossen. „Ein Kollege von mir hat so lange gewartet, bis er die letzte Fahrkarte kaufen konnte“, sagt Medek. Ebenfalls wichtig war bis 1961 die Station Wildpark am Rudolf-Sophien-Stift. Dort stieg man aus, um die Rennen auf dem Solitudering anzuschauen.

Seit 1977 ist die gesamte Strecke elektrifiziert, bis Böblingen ist sie es seit 1963. Heute fahren die Züge bis Freudenstadt und Rottweil. In Eutingen werden sie geteilt. Außerdem verkehren der Intercity nach Zürich und die Züge nach Singen. „Ich empfehle jedem, die Gäubahnstrecke von Böblingen nach Stuttgart zu fahren. Man sieht so viele Perspektiven der Stadt wie nirgendwo sonst. Wer nachts fährt und den beleuchteten Talkessel sieht, der spart eine Lichterfahrt nach Paris“, sagt Medek.