Die US-Whistleblowerin Chelsea Manning wird auf der Internetkonferenz Republica in Berlin gefeiert wie ein Popstar. Die Macher der Republica haben sie eingeladen, weil ihre Geschichte davon erzählt, welche Kraft das Netz hat.

Berlin - Sie winkt kurz, als ihr der Beifall entgegenbrandet, dann ein scheues Lächeln zum Publikum, bevor sie sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht wischt. Viele sind nur wegen ihr nach Berlin gekommen: Chelsea Manning nimmt auf der Hauptbühne der Internetkonferenz Republica Platz, alle Kameras und Scheinwerfer sind auf die 30-Jährige gerichtet – auf jene Frau, die mit 30 Jahren eine Geschichte erzählen kann, die Stoff für mehrere Leben bietet: Chelsea Manning saß wegen Hochverrats sieben Jahre in kuwaitischen und amerikanischen Gefängnissen. Republikanische Politiker forderten die Todesstrafe für sie, besser gesagt: für ihn, denn zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung hieß Chelsea noch Bradley Manning. Bradley Manning arbeitete als Nachrichtenspezialist der US-Streitkräfte, der 22-Jährige war in einer Basis stationiert, die 60 Kilometer östlich von Bagdad lag.

 

Bradley Manning hatte Zugang zu zahllosen geheimen Dokumenten, zu Videos, die zeigten, wie amerikanische Soldaten mit Kampfhubschraubern im Irak Zivilisten töten. Der Obergefreite litt an dem, was er sah, er lud heimlich Hunderttausende Dokumente herunter, brannte sie auf CDs, schmuggelte sie aus dem Militärkomplex und spielte sie der Enthüllungsplattform Wikileaks zu. Auf den Skandal folgte ein gewaltiges politisches Beben. Als die Supermacht Manning als dessen Urheber erkannte, verurteilten Richter ihn im Jahr 2010 zu insgesamt 35 Jahren Haft – Manning kam schließlich im Mai 2017 vorzeitig frei. „An dem Tag, als ich von meiner Freilassung erfuhr, konnte ich zuerst nicht daran glauben“, erzählt Manning bei ihrem Auftritt in Berlin. „Auch danach brauchte ich eine ganze Weile, um mit der Freiheit klarzukommen. Im Gefängnis verlierst du das Gefühl dafür, wie die Welt da draußen funktioniert.“

Chelsea Manning sitzt als Verteidigerin der Digitalisierung auf der Bühne

Heute sitzt Chelsea Manning nicht als Angeklagte vor Gericht, sondern als Verteidigerin der Digitalisierung auf der Bühne: Die Macher der Republica haben sie eingeladen, weil ihre Geschichte davon erzählt, welche Kraft das Netz hat, wenn es darum geht, politische Macht zu begrenzen und Willkür zu enthüllen, die sonst im Verborgenen gewirkt hätte. „Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, weil die Macht der autoritären Systeme inzwischen weltweit zugenommen hat“, sagt Manning, die im November für die Demokraten im US-Bundesstaat Maryland in den Senat einziehen will – als Transsexuelle, die Militärgeheimnisse verraten hat und im Gefängnis saß.

Ihre Vergangenheit begleitet Chelsea Manning – auch wenn die Frau, die heute um ein politisches Amt kämpft, kaum mehr in Einklang zu bringen ist, mit jenem Bild, das sich die Öffentlichkeit einst von jenem Bradley Manning gemacht hat, der sie einst war: ein schmächtiger Mann in Uniform, eine schwarz umrandete Brille, eine Mütze mit Tarnfarben. In Berlin tritt Chelsea Manning im schwarzen Businesskostüm vor das Publikum, dezent geschminkt, mit rot lackierten Fingernägeln. Ihre Stimme changiert zwischen einer Frauen- und einer Männertonlage. Während ihrer Haft hat Chelsea Manning durchgesetzt, dass sie eine Hormontherapie beginnen darf. „Wenn du im Gefängnis bist und alles verloren hast, merkst du, wer du wirklich bist.“ In jener Stadt, in der einst eine Mauer stand, die Menschen jahrzehntelang davon abhielt, frei über ihr Schicksal zu entscheiden, scheint Chelsea Manning angekommen zu sein in ihrer Rolle als Grenzgängerin, die Widerstände überwindet.

Die Macher der Republica wollen nicht die weiße Flagge hissen

Die digitale Avantgarde empfängt sie mit offenen Armen als Freiheitskämpferin. Zum zwölften Mal diskutieren Politiker, Netzaktivisten und Unternehmer bei der Republica drei Tage lang über künstliche Intelligenz und realen Hass im Netz, über den dröhnenden Kommerz auf der Videoplattform Youtube und die Frage, ob Amazon wirklich dafür verantwortlich ist, dass die Geschäfte in der Nachbarschaft kaputtgehen. Im Jahr 2007 startete die Republica als Hinterhofveranstaltung von ein paar Hundert Technikexperten, pünktlich zu ihrem zwölften Geburtstag steckt das Internet mitten in einer schwierigen Phase der Pubertät: Im Netz wüten Hassprediger, China will jede Bewegung und jede Äußerung seiner Bürger im Netz erfassen – wer spurt, wird belohnt, wer aus der Reihe tanzt, findet weder Wohnung noch Job. Die große Freiheit, der die Vordenker des Internets einst entgegensegeln wollten, hat sich in den Augen vieler Kritiker als eine Halluzination herausgestellt. Doch die Macher der Republica wollen nicht die weiße Flagge hissen.

Einen Steinwurf vom Potsdamer Platz entfernt rumpelt eine rüstige U-Bahn über jenes Backsteingebäude hinweg, in dem jedes Jahr während der Netzkonferenz die digitale Welt vermessen wird. Im Innenhof gibt es vegane Currywurst und alternative Cola, man trägt Sneaker statt Lackschuh, man fühlt sich gewiss der richtigen Seite zugehörig. In diesem Frühling des Missvergnügens für viele der großen Techkonzerne aus den USA wird erstmals von vielen Politikern und Juristen in aller Schärfe die Machtfrage gestellt: Was dürfen Amazon, Apple und Co. – und wo müssen ihnen Grenzen gesetzt werden?

Was macht Facebook eigentlich mit all den intimen Daten?

Tausende Kilometer westlich von Berlin ringt einer der Hauptdarsteller des jüngsten Datenskandals rund um die Wahl von Donald Trump um die Rolle seines Unternehmens und um die Deutungshoheit: Facebook-Chef Mark Zuckerberg hat zu seiner jährlichen Entwicklerkonferenz F 8 ins kalifornische San José eingeladen. Facebook gehe es darum, die Welt näher zusammenzubringen, so Zuckerberg. „Wir müssen diese Idee am Leben erhalten.“ Er nimmt die Sache offenbar wörtlich und verwandelt sie umgehend in das nächste Businessmodell: Zuckerberg kündigt an, dass Facebook in das Geschäft mit der Partnersuche einsteigen werde. Die Aktien der Flirt-App Tinder verloren daraufhin rund ein Fünftel ihres Werts.

Auf der Republica fragt man dazu nicht: Was lässt sich damit verdienen? An erster Stelle steht die Frage: Was macht Facebook eigentlich mit all den intimen Daten, die die Nutzer dabei von sich preisgeben? Chelsea Manning hat einst als Soldatin selbst vorgeführt, wie leicht es sein kann, Zugang zu riesigen Datenmengen brisanten Inhalts zu bekommen. Während sie vor ihrer Haftzeit ihre Computerkenntnisse erst für die Armee und dann gegen sie einsetzte, hat Chelsea Manning im Gefängnis grundsätzlich darüber nachgedacht, wie Menschen mithilfe von Daten manipuliert werden können. „Der Missbrauch von Daten geschieht absichtlich“, sagt sie. „Unabhängig davon, ob dies im Namen von Militär, Polizei oder Unternehmen wie Facebook geschieht.“

Der Weg in ihrer amerikanischen Heimat wird steiniger ausfallen als in Deutschland

Die schmale Frau hat sich einen weiten Weg vorgenommen. Dieser wird in ihrer amerikanischen Heimat steiniger ausfallen als bei ihrem Auftritt in Deutschland: In den USA genießt sie bei vielen keinen Heldenstatus, sie wird stattdessen als Verräterin verurteilt, die aus persönlicher Verzweiflung handelte, weil sie sich in der Armee nicht outen konnte. Auf der Republica in Berlin erzählt sie, dass sie sieben Jahre im Gefängnis keine Stimme hatte und diese nun nutzen will: „Meine Botschaft ist, dass jeder den Unterschied machen kann.“

Das passt zum Motto der diesjährigen Internetkonferenz: „Power of People“. Frei übersetzt klingt dabei fast „Wir sind das Volk“ mit. Das Internet soll wieder zeigen, dass es einen und nicht nur trennen kann. Die Grenzgängerin geht in Berlin einen Schritt voran.