Trotz Dauerstress und ständigem Krisenmanagement: Der Böblinger Landrat Roland Bernhard kann dem Pandemiejahr auch Positives abgewinnen: Es habe einen Schub für die Digitalisierung gegeben und die Menschen wüssten die Region wieder mehr zu schätzen.

Böblingen - Ende 2019 hatte der Böblinger Landrat Roland Bernhard Zeit, für ein Entwicklungshilfeprojekt des Kreises nach Tunesien zu fliegen. Seine größte Herausforderung war es, die Flugfeldklinik auf den Weg zu bringen. Doch dieses Jahr haben sich die Ereignisse überschlagen. Im Interview zieht er Bilanz.

 

Dieses Jahr ging es rund: Schlachthofskandal, der Brand im Müllmeiler und dazu noch die Pandemie. Wie fühlen Sie sich, Herr Bernhard?

2020 war ein verrücktes Jahr. Ich bin als Landrat gewohnt, ständig zwei, drei Bälle in der Luft zu jonglieren. Aber sechs, sieben gleichzeitig, ohne dass diese runterfallen – das war schon außergewöhnlich. Andererseits nehme ich die Herausforderungen gerne an, denn mir gefällt es, Hindernisse zu überwinden und zu gestalten.

Aber schränkt die Pandemie Ihre Gestaltungsmöglichkeiten nicht ein?

Auch beim Krisenmanagement gibt es verschiedene Möglichkeiten, die zum Ziel führen. Man kann mal links, mal rechts abbiegen. Wir haben die Pandemie gut gemeistert. Alle sprechen vom Tübinger Weg. Ich finde, der Böblinger Weg hat sich ebenso bewährt.

Was ist der Böblinger Weg?

Wir waren landesweit die Ersten, die im Frühjahr Testzentren aufgebaut haben – das allererste war in Herrenberg. Wir haben als einer der ersten Kreise und in Vorleistung die Bewohner sowie Pflegekräfte in allen Altenheimen durchgetestet. Wir haben sehr früh einen internen hochwirksamen Krisenstab im Landratsamt eingerichtet. Wir haben mit der AG Corona kommunal gemeinsam mit Bürgermeistern Strategien entwickelt. Damit erreichen wir, alle wichtigen Maßnahmen im Kreis im Vorfeld abzustimmen – und das ist uns größtenteils gelungen. Das Verhältnis zu den Bürgermeistern ist durch diese Zusammenarbeit noch enger geworden.

Was hätte aus Ihrer Sicht besser laufen können?

Am Anfang hatten wir beim Gesundheitsamt mit Kommunikationsschwierigkeiten zu kämpfen. Inzwischen läuft dies deutlich besser und die Netzwerkarbeit funktioniert gut. Zur großen Politik: Ich hätte mir schon früher einen härteren Lockdown gewünscht. Man hat beim Bund und teilweise in den Ländern lange geglaubt, man bekommt das tückische Virus mit weniger einschneidenden Maßnahmen in den Griff. Das war trügerisch.

Das klingt ja nach Söder.

Ja, ich stimme ich mit ihm nicht in allen, aber in vielen Punkten überein. Ich denke, es wäre besser gewesen, die Leute nicht in falscher Hoffnung zu wiegen mit Aussagen wie: „Nach dem November ist voraussichtlich alles besser und wir können entspannt Weihnachten feiern.“ Aber ich spreche hier nicht von Fehlern, denn das Thema Corona ist ja für uns alle neu und vieles musste zunächst ausprobiert werden. Was mir persönlich fehlt ist eine längerfristige Strategie, die nicht nur den Zeitraum der nächsten zwei bis drei Wochen abdeckt. Was ich gut finde: Bei den finanziellen Hilfen haben Bund und Land klug reagiert und mutig Rettungsschirme aufgespannt. Dadurch hat der Landkreis viel Geld für Corona-bedingte Defizite, etwa bei den Krankenhäusern oder im öffentlichen Nahverkehr, bekommen.

Warum sind Sie nicht beim Thema Schnelltests eingestiegen ?

Wir haben ein privat initiiertes Schnelltestzentrum in Holzgerlingen. Da kann jeder gegen eine Gebühr einen Schnelltest machen. Auch bei uns im Kreis haben die Pflegeheime die Möglichkeit, Schnelltests für Besucher und Personal anzubieten. Schnelltests kostenlos und breit unters Volk zu streuen, halte ich für die falsche Strategie, denn sie sind ein knappes Gut. Beim Schnelltesten hat der Landkreis allenfalls eine koordinierende Rolle, anders als beim Kreisimpfzentrum, dass wir aufzubauen haben. Das fordert uns sehr.

Dort geht es am 15. Januar los?

Ja. Wir unterstützen die Impfkampagne des Bundes, die die Leute zur Impfung ermuntern soll. Ziel ist, dass sich mindestens 70 Prozent im Kreis impfen lassen.

Wollen Sie nicht mit gutem Beispiel voran gehen?

Ich bin noch keine 80, nicht in der Pflege tätig und zähle somit nicht zu denen, die als erstes an die Reihe kommen. Es gilt, die Vorgaben des Bundes bei der Prioritätenliste einzuhalten, auch deshalb, dass es nicht heißt, Politiker seien privilegiert. Sobald ich aber als Ü 60er an der Reihe bin, werde ich mich aus fester Überzeugung impfen lassen.

Themenwechsel: ein großes Ärgernis war der Schlachthof. Wie geht es da weiter?

Wir haben einen Runden Tisch Schlachthof eingerichtet. Dort wird die Schlachthof-Genossenschaft demnächst ihr neues Konzept präsentieren. Dazu gehören bauliche und organisatorische Veränderungen. Geplant ist ein tierschutzgerechter und nachhaltiger Schlachthof. Davon wollen wir auch das Landwirtschaftsministerium überzeugen und erhoffen uns eine kräftige Förderung. Wenn alles klappt, könnte der Betrieb des neuen Schlachthofs in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres starten.

Sie haben die Veterinäre des Landratsamts entlassen, weil sie offenbar mit Schuld an den Zuständen tragen.

Es sind nachweislich Fehler bei der Kontrolle passiert und das darf nicht unter den Tisch gekehrt werden. Diese Fehler waren aber nicht so gravierend, dass sie eine Kündigung gerechtfertigt hätten, sondern allenfalls eine Abmahnung. Das ist mir wichtig, zu betonen. Eine Abmahnung gab es dann nicht, denn wir waren uns mit beiden einig, dass es besser ist, wenn wir uns trennen. Das geschah einvernehmlich.

Was sind die großen Themen im neuen Jahr?

Unser großes Projekt, der Bau der Flugfeldklinik, kommt in eine entscheidende Phase. Die Beantragung der Baugenehmigung steht an, ab Sommer beginnt der Rohbau. Die Planungen zum Hochpunkt am Flugfeldklinikum werden weiter forciert und der Teilnahmewettbewerb der Architekten abgeschlossen. Zudem werden in Leonberg und in Herrenberg die Sanierungen der Krankenhäuser fortgeführt und die Campuskonzepte weiter entwickelt. Wir sind übrigens bei den Klinikprojekten, wie auch bei unseren anderen Investitionsvorhaben durch Corona kaum in Verzug gekommen. Wir haben parallel zur Pandemiebekämpfung hart an unseren Schlüsselprojekten gearbeitet.

Was ist mit Ihren Tourismusplänen für den Kreis Böblingen?

Die Naherholung und der Tagestourismus im Kreis bekommen in der Corona-Krise Aufwind. Ich denke, dass sich jetzt viele Menschen auf das Naheliegende, die Heimat, das Regionale besinnen, statt in die Ferne zu schweifen und weg zu fliegen. Nach der Pandemie wird es hoffentlich für manche Urlauber nicht mehr so prickelnd sein, möglichst viele Urlaubsziele auf der Weltkarte zu pinnen. Es gibt in unserem Kreis sehr attraktive Landschaften und es bieten sich für die Menschen Möglichkeiten direkt vor der Haustüre. Gemeinsam mit den Gemeinden in der Schönbuchlichtung überlegen wir, am Sulzbachsee ein naturnahes Naherholungsziel zu kreieren.

Was machen Ihre Hochschulpläne?

Wir sind sehr froh, dass wir am Böblinger Herman-Hollerith-Zentrum nun auch einen Bachelor-Studiengang bekommen. Damit ist ein lückenloser Bildungsweg von der Akademie für Datenverarbeitung an der Gottlieb- Daimler- Schule bis hin zur Promotion an der Universität möglich. Das passt zu unseren innovativen High-Tech-Firmen im Kreis. Derzeit sind es rund 150 Studierende. Mit dem Bachelor-Angebot werden es 400 Studierende und unser ehrgeiziges Ziel lautet: 500 plus.

Auch Sindelfingen möchte eine Uni.

Darüber habe ich mit dem Oberbürgermeister Dr. Vöhringer erst vor kurzem gesprochen. Ich unterstütze solche Initiativen. Auch in Leonberg planen wir einen Bildungscampus zum Thema Klima-/Kältetechnik, würden gerne einen Innovationscampus mit Partnerfirmen einrichten. In Sindelfingen wollen wir die Gottlieb-Daimler-Schulen stärken.

Wie wird der Kreis mit den wirtschaftlichen Pandemie-Folgen klar kommen?

Ich bin zuversichtlich, dass wir wieder ein starkes Wirtschaftswachstum haben werden. Prognosen von Experten gehen von bis zu fünf Prozent aus. Wir sind der Landkreis mit dem höchsten Innovationsindex. In der Politik werden wir uns aber etwas bescheiden müssen. Wir waren es in unserem finanzstarken Kreis gewohnt, dass wir fast alles machen können, was wir wollen. Künftig werden wir stärker Prioritäten setzen müssen. Als öffentliche Hand dürfen wir jetzt aber nicht generell die Handbremse anziehen und nur noch sparen auf Teufel komm raus. Wir müssen bei Investitionen antizyklisch agieren, einen Investitionsschub anstoßen, aber bei den laufenden Verwaltungsausgaben müssen wir den Gürtel enger schnallen.

Und was nehmen Sie mit aus diesem verrückten Jahr?

Vieles. Ist der Mensch die Krönung der Schöpfung oder nur Teil eines Universums, eines größeren Ganzen? Wir müssen nachdenken und nachhaltiger und autarker leben. Wir haben in der Krise bemerkt, wie sehr wir von Zulieferern aus dem Ausland abhängig sind. Nicht De-Globalisierung, sondern das kluge Sichern neuer Lieferketten ist gefragt. Wir werden uns stärker auf das Regionale besinnen – bei Lebensmitteln, aber auch beim Freizeitverhalten. Jede Krise birgt Chancen. Der enorme Schub bei der Digitalisierung wäre ohne Pandemie nicht eingetreten.