DGB-Chef Reiner Hoffmann warnt vor weiteren Verwerfungen in der Verteilung des deutschen Wohlstands. Die Bundesregierung ermahnt er, die versprochenen Investitionen in die Tat umzusetzen. Es sei ein Fehler, die „schwarze Null“ beizubehalten.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Am kommenden Sonntag beginnt in Berlin der Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Tags drauf stellt sich der Vorsitzende Reiner Hoffmann nach vierjähriger Amtszeit erstmals zur Wiederwahl. Ein gutes Ergebnis scheint ihm gewiss zu sein.

 
Herr Hoffmann, Ihre 1.-Mai-Rede hat den Eindruck geweckt, Deutschland mache schwere soziale Verwerfungen durch. Die mehrheitliche Wahrnehmung ist aber eine andere. Driftet die Gesellschaft in puncto sozialem Wohlstand weiterhin auseinander oder ist das nur noch ein Phantomschmerz von Gewerkschaftsfunktionären?
Wir stellen die gute Wirtschaftslage nicht in Frage. Bis zu 80 Prozent der Beschäftigten sind in ordentlichen Jobs, meist mit halbwegs ordentlichen Arbeitsbedingungen. Der Arbeitsmarkt ist robust. Aber wir haben auch einen über Jahre verfestigten Niedriglohnsektor. Das sind sieben Millionen Menschen. Nach Angaben der Bundesregierung erhalten 18 Prozent der Einkommensbezieher weniger als 2000 Euro brutto im Monat. Das kann man nicht ignorieren – genauso wenig die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit und die Sorgen vor der Globalisierung. Dieser dreifache Kontrollverlust führt zur Verunsicherung. Uns geht es nicht um Schwarzmalerei, wir wollen die Verhältnisse zurechtrücken und sind nicht blind vor den Problemen der Menschen.
Die Lebenszufriedenheit ist Umfragen zufolge so hoch wie nie. Sogar Vollbeschäftigung ist in Sicht. Dennoch sagen Sie, dass die Spaltung voranschreitet?
Man darf Fakten nicht ignorieren, aber auch die Lage nicht nur schönreden. Die Menschen haben ein wachsendes Interesse an sozialem Zusammenhalt. Da kann man mit der eigenen Lage durchaus zufrieden sein. Aber wenn ehemalige Unternehmensvorstände 3100 Euro an Rente bekommen und zwar täglich, ...
… wie Martin Winterkorn von Volkswagen …
… dann sagen die Leute doch: Habt Ihr sie noch alle? Da läuft doch etwas aus dem Ruder. Dies ist auch ein Nährboden für die rechtsnationalen Populisten.
Die SPD ist seit 1998 mit Ausnahme von vier Jahren an der Regierung – ist Ihr Befund nicht ein Armutszeugnis für die Partei?
Die Verfasstheit der SPD ist sicherlich angespannt. Dass sie sich nach dem schlechtesten Wahlergebnis seit dem Weltkrieg jetzt schüttelt und erneuern will, kann man ja nur unterstützen. In Europa sind ehemals stolze sozialistische Parteien bei den Wahlen bereits einstellig geworden.
Glauben Sie, dass die SPD in der Groko gleichzeitig regieren und die Regierung attackieren kann?
Wir als Gewerkschaften waren sehr geschlossen positioniert, als Jamaika gescheitert ist. Da haben wir gesagt: Wir brauchen eine handlungsfähige Regierung. Die Debatte innerhalb der SPD, dass man Erneuerung nur in der Opposition machen könnte, habe ich nie ganz nachvollziehen können. Einige Landesverbände der SPD sind seit 50 Jahren in der Erneuerung und haben noch keine Regierungsverantwortung übernommen. Es ist sicherlich anspruchsvoll zu regieren und gleichzeitig in der Koalition die Unterschiede zum Koalitionspartner deutlicher zu machen. Daher ist es gut, dass die Parteichefin nicht im Kabinett sitzt, sondern den Fraktionsvorsitz übernommen hat.
Als erstes Gesetz hat Arbeitsminister Heil das Rückkehrrecht aus der Teilzeit in die Vollzeit angekündigt – was muss die Koalition danach vordringlich anpacken?
Sie muss das tun, was im Koalitionsvertrag steht: Zum 1. Januar 2019 muss sie die Parität bei der Gesetzlichen Krankenversicherung wiederherstellen. Dann muss sie die Rentenformel ändern, damit das Rentenniveau auf der jetzigen Grundlage nicht weiter absinkt, sondern bei 48 Prozent stabilisiert wird. Und sie muss die Tarifbindung stärken. Dazu gibt es lediglich bei der Pflege sehr konkrete Hinweise im Koalitionsvertrag. Darüber bin ich jetzt mit Arbeitsminister Heil und anderen im Gespräch – da müssen sie zeigen, was sie können.
An was denken Sie da?
Bei der Tarifbindung haben wir drei Stellschrauben: Erstens kann man die Herstellung der Allgemeinverbindlichkeit erleichtern. Zweitens kann die Nachwirkung von Tarifverträgen erweitert werden. Die Warenhauskette Real zum Beispiel will, obwohl Teil des Metro-Konzerns, aus dem Arbeitgeberverband raus und den billigen Jakob machen. Da müsste der alte Tarifvertrag solange gelten, bis ein neuer abgeschlossen wurde. Die dritte Schraube ist ein vergabespezifischer Mindestlohn bei der öffentlichen Auftragsvergabe. Öffentliche Aufträge dürfen nur noch an tarifgebundene Unternehmen gehen. Bis zu 14 Prozent des Bruttosozialproduktes basieren auf öffentlichen Ausgaben. Hier hat der Staat richtig gute Möglichkeiten, für ordentliche Verhältnisse zu sorgen. Wenn die SPD-regierten Länder schon mal anfangen würden, wären wir einen Schritt weiter.