Exklusiv IG-Metall-Chef Berthold Huber will das Tariflohnniveau für einfache Tätigkeiten in der Industrie nicht absenken. Entsprechende Erwartungen hatte sein Vize Detlef Wetzel geweckt.

Stuttgart. - Nach sechs Jahren als vielgeachteter Vorsitzender der IG Metall tritt Berthold Huber Ende November ab und macht Platz für Detlef Wetzel. Der Schwabe hat bei den Regierenden viel erreicht und hofft, dass sich Kanzlerin Merkel nun wieder an früheren Erfolgen orientiert.
Herr Huber, Kanzlerin Merkel regiert weiter – den von Ihnen propagierten Kurswechsel wird es kaum geben. Sind Sie enttäuscht?
Nein, ein Kurswechsel hängt nicht allein von der Regierungskonstellation ab. Die IG Metall hat sich nicht für eine Partei ausgesprochen, sondern für Inhalte und Lösungen. Wenn nun 32 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder die Union gewählt haben, ist das auch eine Herausforderung für Frau Merkel.
Es wird keine prinzipiell neue Politik geben?
Frau Merkel kann schon allein deswegen kein „Weiter so“ machen, weil sie auf einen anderen Koalitionspartner angewiesen ist. Es muss eine Große Koalition für Arbeitnehmerfragen geben – vor allem mit einem gesetzlichen Mindestlohn und mehr Rechten für Betriebsräte bei Leiharbeit und Werkverträgen. Ich bin nicht per se ein Freund des Mindestlohns, sondern eher der eigenen Stärke der Gewerkschaften – das können wir aber in verschiedenen Bereichen nicht bieten. Deutschland hat inzwischen zu 23 Prozent Niedriglöhner. Es ist daher wohlfeil, wenn CDU und CSU nicht in die Tarifautonomie eingreifen wollen, obwohl sie wissen, dass die Tarifparteien dies nicht selbst regulieren können. Damit wollen sie sich nur selbst entlasten. Sogar die IG Metall als tatkräftige und tarifmächtige Gewerkschaft kann bestimmte Teile der Tariflandschaft nicht mehr selbst regulieren. Wir brauchen an dieser Stelle die Politik. Man mag das als Eingeständnis von Schwäche werten – es ist nur die Wahrheit.
Ein Mindestlohn ist noch kein Kurswechsel – und gravierende Änderungen bei der Rente, eine Bürgerversicherung, höhere Steuern für Investitionen und eine neue Europapolitik wird es kaum geben?
Unser Projekt Kurswechsel ist ja nicht auf eine Bundestagswahl angelegt, sondern auf eine alternative Konzeption. Wir müssen den globalen Trend, in Niedriglohnbereiche auszuweichen, brechen. Da könnte eine Große Koalition nun ein eigenes Projekt entwickeln. Wir brauchen eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Das ist eine conditio sine qua non.
Warum sollte Merkel den Kurs ändern?
Sie hat in der Krise 2008/2009 unter der früheren Großen Koalition einen anderen Weg gewählt und sich überzeugen lassen von Argumenten, die nicht zuletzt die IG Metall formuliert hat – keine Entlassung in der Krise. Dass wir die industrielle Wertschöpfung und Beschäftigung in Deutschland erhalten haben, ist eine der großen Leistungen gewesen. Warum sollte man sich nicht am Erfolg orientieren?
Nur elf Prozent der Gewerkschaftsmitglieder haben die Linke gewählt – trotz deren arbeitnehmernahen Programms. Warum?
Ich glaube, dass ein in guten Teilen aus irgendwelchen Entschließungen von Verdi, der IG Metall oder des DGB abgeschriebenes Programm nicht genügt, um eigene Politikfähigkeit unter Beweis zu stellen. Wer meint, dass das Motto „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ ausreicht für eigenes Handeln, der ist nicht koalitionsfähig. Es mag ja verführerisch sein, mit einer rot-rot-grünen Bundestagsmehrheit einen gesetzlichen Mindestlohn durchzusetzen, doch das ist nur opportunes Geschwätz. Es dient eher der Entlarvung von SPD und Grünen, als ob die das nicht ernst meinten. Dabei meinen sie es ernst. Diese Bloßstellungsstrategie halte ich für nicht tragfähig.
In vier Jahren wird womöglich ganz locker über Rot-Rot-Grün geredet?
Die Parteilandschaft ändert sich, und die Linkspartei wird auch erwachsener. Eine Ausgrenzungspolitik halte ich für falsch.

Die Metallarbeitgeber wollen das Lohnniveau gerade im unteren Tarifbereich senken und verbinden damit das Eingeständnis, jahrelang zu hohe Lohnabschlüsse vereinbart zu haben. Müssten Sie nicht auch sagen: Ja, wir waren erfolgreich, sind aber den anderen Branchen vorausgeeilt?
Im Vorjahr hatte Deutschland einen Exportüberschuss von 180 Milliarden Euro – die kamen aus der Industrie. Die Bereiche Metall und Chemie haben die höchste Produktivität. Die Beschäftigten sollen davon profitieren. Spitzenleistungen in Produktivität, Innovation und Qualität kriegen Sie nicht mit schlecht bezahlten Menschen.
So ist aber eine Kluft entstanden – ein Teil der deutschen Arbeitnehmer ist abgehängt?
Gibt es eine wettbewerbsfähigere Industrie im globalen Maßstab als Metall und Elektro – warum sollen wir uns dafür entschuldigen? Ebenso wenig müssen sich die Beschäftigten dafür entschuldigen, dass sie eine starke Gewerkschaft haben. Es würde der Industrie ja nicht besser gehen, wenn wir das Lohnniveau drücken würden.
Sie haben den Arbeitgebern Gespräche über niedrigere Einstiegstarife in Aussicht gestellt...
… nein, das haben wir nicht…
... aber Ihr Stellvertreter. Hat das mit der Einsicht zu tun, dass Ihnen die Tarifeinkommen und die Verdienste für einfache Arbeit zu weit auseinander laufen?
Wir bleiben bei unserer tarifpolitischen Linie. Trotzdem gibt es einen Trend zur prekären Beschäftigung unterhalb der Tarifverträge. Nur ein Beispiel: Wir haben Entwicklungsdienstleister mit inzwischen jeweils mehr als 10 000 Beschäftigten, die mindestens 20 bis 30 Prozent unter der tariflichen Entlohnung liegen. Auf diesem Feld wird die IG Metall für ordentliche Verhältnisse sorgen müssen.
So streben Sie doch keinen Kompromiss an mit niedrigeren Einstiegstarifen für industrielle Dienstleistungen gegen mehr Mitsprache bei den Werkverträgen?
Nein. In der Frage der Werkverträge ist erst einmal der Gesetzgeber gefordert, den Betriebsräten eine erweiterte Mitbestimmungsmöglichkeit zu geben. Die sind gar nicht in der Lage, das Ausmaß zu überblicken. Es gibt Werkverträge, die wir nicht beseitigen wollen. Wir wollen aber nicht, dass in Bereiche unter Tarif oder gar ohne Tarif ausgelagert wird.
Das Tariflohnniveau für einfache Arbeit soll somit nicht gesenkt werden?
Genau, weil die Automobilhersteller gar nicht mehr das Interesse haben, Dienstleistungen im Tarifvertrag zu behalten. Alles was tarifvertraglich bezahlt wird, ist den Unternehmen letztendlich zu hoch bezahlt. Dann soll man gleich die Parole „Keine Gewerkschaften!“ ausgeben. Glauben Sie, dass es eine Lösung ist, wenn die IG Metall unterhalb des Tarifniveaus etwas anbietet und dann noch mehr? Das ist ein Fass ohne Boden. Wir glauben, dass die verschiedenen Arbeiten in der Metall- und Elektroindustrie in unseren Tarifverträgen ausreichend abgebildet sind.

Mitbestimmung war immer Ihr großes Projekt – sind Sie da weitergekommen?
Die Bewältigung der großen Krise 2008 ist der beste Beweis, dass der Sozialstaat handlungsfähig ist. Das war ein Erfolg der Mitbestimmung. Frau Merkel ist ja auch eine Protagonistin der Mitbestimmung. Das ist heute kein Fremdwort mehr für die Union. Das ist ein großer Sieg gegenüber der Theorie und der Politik der Neoliberalen.
14,41 Millionen Euro hat VW-Chef Winterkorn für 2012 erhalten, 8,15 Millionen Euro bekam Daimler-Chef Zetsche. Konnten Sie die Selbstbedienungsmentalität in den Manageretagen eingrenzen?
Da bin ich skeptisch. Der Antrieb kam mit dem Shareholder-Value-Kapitalismus. Danach ist das alles ausgeufert. Wir sind jetzt dabei, das einigermaßen einzusammeln. In den genannten Unternehmen haben wir zumindest Höchstgrenzen eingezogen. Trotzdem sind unsere Handlungsmöglichkeiten begrenzt.
Bleibt das Thema auf der Agenda?
Ich bin davon überzeugt: Mehr als zehn Millionen Euro wird allgemein nicht mehr akzeptiert. Eine Ausnahme ist VW-Chef Martin Winterkorn. Er hat den Volkswagen-Konzern aus einem Dilemma geführt, hat viel erreicht bei der Beschäftigung. Er ist einer der besten Konzern-Chefs und Automobilisten, die ich weltweit kenne.
Waren die 7,84 Millionen Euro für den mittlerweile abgelösten Siemens-Chef Löscher auch gerechtfertigt?
Peter Löscher hat die drei höchsten Ergebnisse erzielt, die Siemens je am Kapitalmarkt erwirtschaftet hat. Wir brauchen in der Industrie integre und qualifizierte Leute, die nicht nur auf ihr Entgelt schauen, sondern sich mit dem Unternehmen, ihrer Aufgabe und der Belegschaft identifizieren. Und wir brauchen mehr Ingenieure an der Spitze, weniger Juristen oder Banker. Da sehe ich ein großes Problem.
Was bedeutet Ihnen die Nähe zur Macht?
Mit Macht habe ich meine Arbeit nie identifiziert...
.... und die Nähe zu den Mächtigen?
Ich habe immer einen offenen Diskurs mit den in der Wirtschaft Mächtigen geführt. Zumindest reicht mein Selbstbewusstsein aus zu sagen: So gescheit wie die bin ich auch. Einigermaßen zumindest.
Ihr Kontakt zur Kanzlerin war manchen an der Basis mitunter zu intensiv.
Ich habe den Eindruck, dass die Basis ganz zufrieden damit ist. Es ist ja auch nicht so, dass ich als Gesprächspartner immer angenehm bin. Wir haben ein distanziertes Verhältnis, das von Respekt getragen wird – auch weil ich nicht über ideologische Positionen diskutiere, sondern über das, was zu tun ist. Kein Mensch ist in den Krisenrunden 2008 und 2009 mehr gescholten worden als ich. Zudem habe ich zu Frau Merkel nie einen so unmittelbaren Kontakt gehabt, wie man ihn mir stets nachgesagt hat.
Ist es schwierig, sich nicht zu sehr von den einfachen Mitgliedern zu entfernen?
Ich bin ganz nah bei den Leuten dran.

Sind Sie sicher, dass die IG Metall Ihren pragmatischen Kurs fortführt?
Ja, da bin ich mir sicher. Die vorgeschlagenen Spitzenkräfte Detlef Wetzel und Jörg Hofmann sind dafür eine Gewähr. Und ohne die Mitgliederorientierung, die gerade Wetzel stark gemacht hat, wäre die IG Metall auf dem Verlierertrip. Wir haben auch dieses Jahr gute Mitgliederarbeit geleistet. Es gibt überhaupt keine Massenorganisation in Europa, die in dieser Hinsicht annähernd mit der IG Metall mithalten kann.
Wetzel ist fast 61 Jahre alt, Hofmann ist 57 – sieht so ein Generationenwechsel aus?
Wir haben schon 2011 in Karlsruhe eine deutliche Verjüngung der Führungsmannschaft vorgenommen und werden auf dem Gewerkschaftstag Ende November einen weiteren Schritt tun. Dass der Vorsitzende 35 Jahre alt sein muss, halte ich auch für ein Gerücht. Wir stellen erfahrene Leute zur Wahl. Und in den nächsten Jahren wird man dann auch jüngere Figuren sehen.
Dass Frauen viel zu sagen hätten, lässt sich nicht sagen bei zwei Frauen im engeren Vorstand. Wird sich dies auch mal ändern?
Gemessen am Anteil der Frauen in der Mitgliedschaft, sind zwei Kolleginnen nicht wenig. Aber das ist trotzdem keine hinreichende Antwort. Deswegen sage ich: Wir brauchen mittelfristig eine Frau ganz oben unter den ersten drei.
Kandidiert Detlef Wetzel für insgesamt zwei Jahre – oder will er Werbung für die Rente mit 67 machen?
Detlef Wetzel geht jetzt als Vorsitzender ins Rennen und wird später entscheiden, wie es weitergeht. Der nächste ordentliche Gewerkschaftstag ist 2015. Er hat diese Frage dann neu zu bearbeiten.
Was machen Sie vom 26. November an – in ein Loch fallen?
Dafür sorgt schon die IG Metall, dass ich nicht ins Loch falle. Und ich selbst natürlich.
Ihre Aufsichtsratssitze bei Siemens und VW behalten Sie erst einmal bis zum Ende der jeweiligen Amtsperiode...
...wie auch den Vorsitz bei dem im Vorjahr gegründeten internationalen Verband IndustriALL Global Union.
Aus dem operativem Geschäft sind Sie bei der IG Metall definitiv draußen?
Selbstverständlich. Man muss die Fairness und Souveränität haben, zu sagen: Da mische ich mich nicht mehr ein. Schließlich werde ich im Februar schon 64.

Führungswechsel –
Am 24./25. November wählt die IG Metall auf einem außerordentlichen Gewerkschaftstag in Frankfurt ihre neue Führung. Detlef Wetzel kandidiert als Erster Vorsitzender, der Stuttgarter Bezirksleiter Jörg Hofmann als sein Vize. Hauptkassierer Bertin Eichler macht Platz für den Bayern Jürgen Kerner. Neu in den engeren Vorstand kommen Irene Schulz aus Berlin-Brandenburg sowie der Erfurter Wolfgang Lemb.

 

Verjüngung –
Der seit 2007 amtierende Vorsitzende Berthold Huber hatte die Verjüngung der IG-Metall-Führung schon beim Gewerkschaftstag 2011 in Karlsruhe angedeutet und hinter den Kulissen auf den Weg gebracht. In der Organisation genoss er stets ein hohes Ansehen: 2007 wurde der damalige Vize von 92,6 Prozent der Delegierten zum Nachfolger von Jürgen Peters gewählt. Bei der Wiederwahl 2011 erhielt er 96,2 Prozent.

Aufstieg –
Der 1950 in Ulm geborene Berthold Huber absolvierte eine Ausbildung zum Werkzeugmacher und arbeitete bei der Firma Kässbohrer, bevor er hauptamtlich bei der IG Metall einstieg. Nach Jahren in Ostdeutschland unter Franz Steinkühler sowie Walter Riester wurde er 1998 Bezirksleiter im Pilotbezirk Baden-Württemberg. 2003 wechselte er nach Frankfurt, um die IG Metall aus ihrer großen Krise zu befreien.