Der frühere Bundestrainer Jürgen Klinsmann spricht im Interview mit der „Stuttgarter Zeitung“ über den Stellenwert des deutschen Fußballs, die Meisterfrage in der Bundesliga und die Zukunftschancen des VfB Stuttgart.

Newport Beach - Er ist Nationaltrainer der USA und fungiert im Ausland noch immer als deutscher Fußballbotschafter. „Die US-Reporter berichten zuhause auch immer wieder total euphorisch von der Stimmung und der Atmosphäre in den Bundesligastadien“, sagt Jürgen Klinsmann, der den Fußballstandort Stuttgart mit seinen Zuschauern, Sponsoren und dem gesamten Umfeld für eine erstklassige Adresse hält.

 
Herr Klinsmann, Sie haben als Teamchef der Nationalmannschaft bei der WM 2006 das Sommermärchen mit geschaffen. Auch für die Bundesliga bedeutete dies noch mal einen immensen Schub. Wie fühlt man sich als Vater des Aufschwungs?
Oh je, solch ein Denken und solche Gefühle sind mir völlig fremd. Ich lebe nicht in der Vergangenheit und bin keiner, der für sich solche Verdienste in Anspruch nimmt. Für einen derartigen Aufschwung, wie ihn die Bundesliga erlebt hat, kommen mehrere Faktoren zusammen. Aber selbstverständlich freut es mich, dass sich der Fußball in Deutschland so gut entwickelt hat.
Wie schauen Sie aktuell auf die neue Bundesligasaison? Tun Sie dies als Schwabe durch die Stuttgarter Brille, als Nationaltrainer der USA durch die amerikanische Brille oder als Fußballanhänger durch die Fan-Brille?
Irgendwie durch alle. Aber natürlich ist für mich die US-Brille die Wichtigste. Und da freut es mich, dass Werder Bremen mit Aron Johannsson noch einen Spieler aus meinem Kader verpflichtet hat. Ich habe großes Vertrauen in die Bremer, dass sie Aron, der von der holländischen Liga kam, nun helfen werden, den nächsten Schritt zu machen. Das Potenzial hat er sicherlich.
Und die anderen Spieler ihres Teams?
Die stehen alle vor einer spannenden Saison. Fabian Johnson mit Mönchengladbach erstmals in der Champions League, Alfredo Morales mit Ingolstadt zum ersten Mal in der Bundesliga, John Brooks als Abwehrchef bei Hertha BSC und Timothy Chandler bei Eintracht Frankfurt werden sich sicherlich in einer starken Liga weiter beweisen.
Die Stadien in der Bundesliga sind voll, obwohl der FC Bayern das Geschehen beherrscht und der Kampf um den Titel in der Bundesliga zuletzt langweilig geworden ist. Mit wie vielen Punkten Vorsprung holen die Bayern dieses Mal die Schale?
Selbst die Frage nach dem Vorsprung bringt ja schon wieder Spannung. Bei Bayern hat sich einiges getan in der Mannschaft – und dies zu beobachten, ist ja auch schon wieder spannend. Aber klar, wenn der amtierende Meister sich noch einmal mit internationalen Topspielern verstärkt – wie es Bayern getan hat – ist nicht davon auszugehen, dass der Abstand geringer wird.
Gibt es für die Münchner überhaupt noch ernsthafte nationale Konkurrenten?
Natürlich. Nicht immer gewinnt im Fußball am Ende der Favorit – auch wenn in diesem Fall die Führungsrolle eindeutig zugeteilt ist. Ich bin gespannt auf Wolfsburg, Dortmund oder auch Leverkusen. Diese Mannschaften müssen ebenso wie auch Schalke auf den Punkt bereit sein, wenn die Bayern mal Schwächen zeigen sollten.
Es scheint, als würden auch die Abstiegskandidaten feststehen. Dazu zählen wohl vor allem wohl die Aufsteiger aus Darmstadt und Ingolstadt?
Das sehe ich nicht ganz so deutlich. Bei Paderborn hat man das in der vergangenen Saison auch gesagt – und die Mannschaft hatte im letzten Saisonspiel noch die Möglichkeit, in der Liga zu bleiben. Ich bin gespannt, wie das läuft im hinteren Drittel der Tabelle. Da kann immer wieder eine Mannschaft oder mehrere Teams ganz überraschend reinrutschen – da kommt man schneller rein als in den Meisterkampf.
Darmstadt hat einen Etat von 15 Millionen Euro – bei den Bayern sind es 150 Millionen. Kann man da noch von einer echten Konkurrenz innerhalb der Liga sprechen?
Sicher nicht im direkten Vergleich. Darmstadt kann nie mit Bayern konkurrieren. Aber Darmstadt kann für die eine oder andere Überraschung sorgen und so am Ende auch erstklassig bleiben. Diesen Kampf hat zum Beispiel der SC Freiburg seit Jahren bestritten – und meistens erfolgreich.
Schauen wir durch die schwäbischen Brille und blicken auf den Fußballstandort Stuttgart. Was wäre erforderlich, damit der VfB sich mal wieder in Richtung Champions League orientieren kann?
Der VfB braucht sicherlich keine Ratschläge von einem, der tausende Kilometer entfernt lebt – das würde mich auch nerven. Ich denke im Verein weiß man, was zu tun ist. Klar ist für mich: Der Fußballstandort Stuttgart ist absolut top mit seinen Zuschauern, seinem Umfeld und seinen Sponsoren. Er bietet zwei herrliche Stadien in Cannstatt und in Degerloch und es freut mich, dass es den Anschein hat, dass es bei beiden Vereinen, für die ich gespielt habe, vorwärts geht.
Wer wird in der neuen Saison der Bundesligaspieler, der frische Akzente setzt?
Ich bin auf die Bayern-Neuzugänge Arturo Vidal und Douglas Costa gespannt, könnte mir aber durchaus vorstellen, dass Kevin De Bruyne seinen Vorteil nutzt, die Bundesliga bereits zu kennen und noch eine Schippe drauf legt.
Was sagt es über die Bundesliga aus, wenn ein Club wie der FC Augsburg den fünften Tabellenplatz belegt?
Es sagt vor allem aus, dass beim FC Augsburg hervorragend gearbeitet wurde und das Team mit dem Manager Stefan Reuter und dem Trainer Markus Weinzierl besser war als die sportliche Leitung bei anderen Vereinen. Die beiden haben eine gute Identität für den Verein gefunden – und dies auch perfekt umgesetzt.
Zeigt dies auch, dass Geld im Fußball nicht alles ist?
Natürlich. Aber da brauchen wir uns nicht auf Augsburg zu beschränken. Da gibt es genügend Beispiele. Viele Clubs sind mit weniger Investitionen besser als mit großen Ausgaben. Viele Vereine haben ja nicht das Problem, dass sie zu wenig Geld haben, sondern dass sie das Geld, das sie haben, falsch ausgeben.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung in der Liga insgesamt?
Die Bundesliga ist bei vielen Kennzahlen weltweit führend. Der Komfort in den Stadien ist top. Ich organisiere ja immer wieder Bundesligabesuche für amerikanische Trainer, für Geschäftspartner oder auch amerikanische Journalisten. Denen fällt immer wieder auf, dass in der Bundesliga beispielsweise viel mehr Familien zuschauen als in vergleichbaren europäischen Ligen. Sie berichten zuhause immer wieder total euphorisch von der Stimmung und der Atmosphäre in den Stadien.
Der Fußball hat einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert bekommen. An was könnte das liegen?
Der Stellenwert des Fußballs war in Deutschland ja schon immer groß. Hinzugekommen ist aber, dass es durch die WM 2006 und die Frauen-WM 2011 viele neue Stadien gibt in Deutschland mit entsprechenden Logen und Businessbereichen. Dies hat viel zur gesellschaftlichen Steigerung beigetragen. Da geht man gerne hin – anders als in Italien oder teilweise auch in Spanien und England, wo sich dieser Komfort auf wenige Stadien beschränkt.
Auffällig ist weiter, dass Traditionsvereine wie Nürnberg, der HSV oder auch der VfB Schwierigkeiten haben, den Anschluss zu halten. Gibt es da einen Zusammenhang?
Tradition alleine gewinnt halt keine Spiele. Bei Traditionsvereinen besteht immer wieder die Gefahr, dass man sich über einen längeren Zeitraum zu sehr auf Dinge konzentriert, die nicht unmittelbar im sportlichen Bereich liegen. Wenn man da nachlässig wird, kann es ganz schnell gehen. Vereine, die aufstreben, konzentrieren sich ausschließlich auf den Fußball. Die warten nur darauf, dass bei den anderen nicht optimal gearbeitet wird.
Befürchten Sie, dass die Clubs aus der Premier League aufgrund der finanziellen Ausstattung bald den Ton in Europa angeben und die Champions League beherrschen?
Die Gefahr ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen – aber ich glaube es nicht. Denn dann hätten Manchester City oder Manchester United schon in den vergangenen Jahren alles gewinnen müssen. Vereine, bei denen gut gearbeitet wird, die werden immer mitmischen und konkurrenzfähig sein – wie etwa der FC Bayern. Die Münchner haben sich ausgesprochen klug verstärkt. Ich sehe Bayern deshalb im engsten Kreis der Favoritenrolle für die Champions League.
Wie wird die Bundesliga in den USA wahrgenommen – auch im Vergleich zu Spanien und England?
Spanien und vor allem England haben weltweit noch immer einen Vorsprung. Sie sind einfach schon länger international unterwegs in Asien, Afrika und auch den USA. Aber der Vorsprung wird kleiner, die Bundesliga holt auf. In der neuen Saison wird die Bundesliga hier bei uns in Fox-Sports übertragen – das wird wieder einen weiteren Schub geben. Der Ligaverband DFL ist außerhalb Europas vielleicht spät dran – aber sie bemüht sich wirklich sehr. Gegen Ende der vergangenen Saison hat die DFL beispielsweise eine Journalistenreise nach Deutschland organisiert mit Topspielen in Hamburg, Stuttgart und München. In Stuttgart waren die Journalisten im Stadion, in der Jugendakademie des VfB – und auch in der Bäckerei Klinsmann. Wo es die besten Brezeln gibt, wissen sie jetzt also auch.