Seit fünfzig Jahren porträtiert Ken Loach die Arbeiterklasse. Das Leben der Menschen sei nicht leichter geworden, findet der Brite.

Stuttgart - - Im Klima sozialen Aufbruchs der Sechzigerjahre begann Ken Loach mit viel beachteten Fernsehspielen für die BBC. In der Ära Margaret Thatchers wehrte sich der 1936 geborene bekennende Sozialist mit Spiel- und Dokumentarfilmen gegen die konservative Wende. Für seine Kinoarbeiten erhielt Loach viele Auszeichnungen, sie laufen regelmäßig auf den großen Festivals. Die Zukunft des Kinos liegt Loach am Herzen. Er selber aber, bekennt er, denke nun über die Zeit nach dem Filmgeschäft nach.
Herr Loach, Ihr neuer Film „Jimmy’s Hall“ erzählt die Geschichte eines irischen Freiheitskämpfers, der sich für eine offene und moderne Gesellschaft einsetzt. Ist Gralton als Vorbild für unsere Zeit gedacht?
Jimmy Gralton war ein Aktivist, der sein Leben einer Sache verschrieben hat. Und es gibt auch heute viele Menschen, die so sind wie er. Sie arbeiten mit Jugendlichen, sind aktiv in den Gewerkschaften oder kümmern sich um alte Menschen. Graltons Idee von einem freien Ort ohne Zwänge ist also nach wie vor relevant. Wir brauchen Rückzugsräume, wo wir Ideen entwickeln können oder auch einfach nur Musik hören oder tanzen können, ohne kontrolliert und bevormundet zu werden.
Ihre Filme zeichnen oft ein düsteres Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse, trotzdem legen Sie viel Wert auf Witz und Humor.
Naja, so sind wir Menschen eben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es immer und überall auch etwas gibt, das uns zum Lachen bringt, selbst in den schlimmsten Situationen. Außerdem wäre es unrealistisch, eine Geschichte vollkommen humorlos zu erzählen. Eine Grundregel des Lebens lautet: um weitermachen zu können, muss man bittere Pillen etwas versüßen.
Ist das Filmemachen für Sie selbst eher süß oder eher bitter?
Darauf habe ich keine fertige Antwort. Es gibt so viele Geschichten zu erzählen, so viele Filme, die ich unbedingt machen möchte. Nicht nur fiktionale Sachen, sondern auch Dokumentationen. Es ist auf jeden Fall ein Privileg, diese Arbeit zu machen. Andererseits fordert sie ihren Tribut. Ich habe das Gefühl, dass mir die Energie fehlt, um einen weiteren Film zu drehen. Nehmen Sie „Jimmy’s Hall“: alles, was vor der Kamera steht und geschah, musste mühevoll entwickelt und aufgebaut werden. Bei einer zeitgenössischen Geschichte können Sie die Kamera draußen auf der Straße postieren und es passt. Das kann man mit historischen Stoffen nicht machen. Die sind eine enorme Herausforderung. Ich weiß nicht, ob ich das noch einmal schaffe. Ich denke ernstlich ans Aufhören. Zunächst warte ich aber mal ab, wie es im Herbst um meine Gesundheit steht.
Sie haben in den sechziger Jahren bei der BBC begonnen. Ihre Filme handelten von den Problemen der Arbeiter, es ging um Obdachlosigkeit und Armut. War das Fernsehen damals subversiver?
Ich weiß nicht, ob es subversiver war, aber auf jeden Fall war es kritischer. Die Sender werden jetzt viel strenger geführt. In den Sechzigern gab es mehr Freiheiten, weil die Leute beim Sender das Potenzial dieses Mediums noch nicht richtig erkannt hatten. Deswegen haben sie wohl auch das Programm nicht so streng kontrolliert, wie das heute der Fall ist. Hinzu kommt, dass das heutige Fernsehen durch die vielen Sender und Wiederholungen extrem fragmentiert ist. Wenn damals ein Film im Fernsehen lief, dann hat die Hälfte der Gesamtbevölkerung zur selben Zeit dasselbe Programm gesehen. Heute kann ein Fernsehspiel gar nicht mehr denselben Einfluss ausüben, weil die Leute mehr Auswahlmöglichkeiten haben.
Führt endlose Auswahl auch zum Zynismus?
In den Sechzigern war das Fernsehen noch ein junges Medium, das die Menschen sehr beeindruckt hat. Heute wächst jeder damit auf, es ist zumindest nichts Besonderes mehr. Ich glaube, es ist mittlerweile viel schwieriger geworden, die Menschen durch das Fernsehen anzurühren. Früher war die vorherrschende Grundstimmung auch eher links, jetzt ist der konservative Geist in den Köpfen verankert.
In den Thatcher-Jahren wurden die Arbeitsbedingungen für Sie so schwer, dass Sie die BBC verlassen haben. Wie kam es dazu?
Die Achtziger waren eine Zeit, in der Thatcher wirklich zügellos und der rechte Flügels politisch sehr stark war. Die Leute beim Sender, die sich um die Auftragsvergabe kümmerten, waren auch rechts, also haben sie nach „rechten“ Themen gesucht, was völlig absurd wurde. Es war Mode, konservativ zu sein. Für Leute wie mich war das eine sehr harte Zeit. Ich habe ein paar Dokumentationen gemacht, aber die wurden verboten. Es war praktisch unmöglich, etwas unterzubringen, vor allem beim Fernsehen. Das Schlimmste ist aber, dass das, was Thatcher damals getan hat, jetzt in ganz Europa passiert. Diese Zeit hatte schreckliche Auswirkungen, es ist ein Desaster! All die Privatisierungen, die Deregulierung der Arbeitsmärkte, die Schwäche der Gewerkschaften, die Massenarbeitslosigkeit – all das geht auf Thatcher zurück. Diese Frau war eine Katastrophe, aber wir konnten sie nicht stoppen.
Das Kino bietet die Möglichkeit, aufrüttelnde Geschichten zu erzählen, andererseits geht es auf dem Filmmarkt um Profit. Machen Sie sich Sorgen, dass es sperrige Geschichten in Zukunft noch schwerer haben werden?
Man kann auch eine raue Geschichte fesselnd erzählen. Es geht nicht so sehr um das Was, sondern um das Wie. Wenn man alles dem Markt überlässt, werden amerikanische Filme dominieren. Für europäische Filme brauchen wir Politiker, die gute Bedingungen für das europäische Kino schaffen, zum Beispiel durch Werbebudgets, damit wir nicht von Hollywoods Filmen überschwemmt werden. Wenn die Politik es richtig anstellt, können wir die Kinos und die europäische Filmkultur erhalten. Aber unsere Filme müssen natürlich auch etwas taugen.
Was würden Sie jungen Filmemachern raten, die sich im Geschäft etablieren wollen, ohne dabei künstlerische Kompromisse einzugehen?
Oh Gott, das weiß ich wirklich nicht. Ich habe im Theater angefangen, dort lernt man, wie man mit Schauspielern richtig arbeitet. Ja, es ist wohl ein guter Plan, dort anzufangen. Ansonsten fällt es mir schwer, etwas zu raten, weil sich alles so sehr verändert hat. Aber diejenigen, die es wollen, schaffen es auch. Ich denke, dass es wichtig ist, sich mit Geschichte zu beschäftigen, zu wissen, woher man kommt. Nur so kann man auch etwas verändern.