Das Thema Emanzipation ist durch? Aber nicht doch, findet die Autorin und Moderatorin Lisa Ortgies. Es gibt noch viel zu tun.

Stuttgart - Gleichberechtigung und Frauenbewegung, da sind wir doch längst drüber weg" - winken viele moderne Männer und Frauen überdrüssig ab. Und merken gar nicht, wie sie allmählich unmerklich in alte Rollenklischees zurückkippen.

 

Frau Ortgies, Schlampenliteratur und Schlampenattitüde - sieht so der moderne Feminismus aus?

Ich bin erstaunt und finde es bezeichnend, dass Frauen wie Charlotte Roche mit ihren Büchern oder die Sängerin Lady Bitch Ray mit ihrer provokanten Selbstinszenierung offenbar noch irritieren können. Beides sind Beispiele für einen offensiven Umgang mit der eigenen Sexualität.

Und was steckt hinter den Slutwalks? Mehr als nur ein medial gut inszenierter Flashmob?

Die Slutwalks sind Medienlieblinge. Aber eine neue Bewegung braucht immer Aufmerksamkeit, deshalb finde ich das Mittel zum Zweck, sich oben herum auszuziehen, völlig in Ordnung. Ich habe daran nichts ideologisch auszusetzen. Ich finde es clever, dass sich die Frauen den medialen Mechanismus - bunte Bilder von halbnackten Frauen - zu eigen machen, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Sehen Sie Parallelen zur Paragraf-218-Bewegung zu Beginn der 70er Jahre?

Mich erinnert das schon daran. Nicht weil ich beteiligt gewesen wäre, sondern weil ich das als junge Frau retrospektiv wahrgenommen habe. Da ging es, wie jetzt auch, um das Recht am eigenen Körper und um sexuelle Selbstbestimmung. Da gab es, wie jetzt auch, ein diffuses Unbehagen, das sich in vielen Teilen der Welt gleichzeitig formiert hat.

Was ärgert heute die moderne Feministin?

Vieles von dem, was in der Frauenbewegung der 70er Jahre diskutiert wurde, ist in Vergessenheit geraten. Inzwischen machen sich subtil alte Vorurteile und Rollenklischees breit. Es wird wieder wie selbstverständlich der Name des Ehemannes angenommen - nichts dagegen, wenn es ein bloßes Symbol der Romantik wäre. Anders herum kommt es jedoch so gut wie nie vor. Tatsächlich kippen Frauen wie Männer mit der Heirat und der Familiengründung in die traditionelle Rollenverteilung zurück.

Woran liegt das?

In erster Linie an den Lebensumständen hier in Deutschland: die versprochenen Kitas und Ganztagsschulen sind ja noch Zukunftsmusik. Aber auch an den Unternehmen, die berufstätigen Müttern oder in Teilzeit beschäftigten Vätern skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen. Wir reden zwar davon, dass die Gleichberechtigung längst vollzogen ist, faktisch ist es aber nicht so. Wir diskutieren, als hätten wir längst norwegische oder schwedische Verhältnisse, und tun gleichzeitig so als wäre der Rückfall in die Rollenklischees ein emanzipatorischer Fortschritt. Schauen Sie sich die Bandbreite an Büchern und Foren für Mamis an. Zugegeben: die gibt es auch für Väter, aber das ist bisher eine Randgruppe.

Was spricht dagegen, in seiner Mutter- oder Vaterrolle aufzugehen?

Gar nichts! Ich habe das teilweise selbst für mich in Anspruch genommen. Aber wenn eine Mutter hundert Prozent und über längere Zeit in dieser Rolle verschwindet, dann riskiert sie, nach einer Trennung Hartz IV beanspruchen zu müssen. Das neue Unterhaltsrecht ist eindeutig: die Frau soll nach drei Jahren wieder voll arbeiten gehen. Es gibt aber in Deutschland keine entsprechenden Bedingungen. Die Leidtragenden sind die alleinerziehenden Mütter, deren Zahl stetig steigt. Die Zahl der alleinerziehenden Väter schrumpft übrigens. Kitas müssten bis 18.30 Uhr geöffnet sein - ganz zu schweigen von einer Betreuung für Schulkinder.

DIe Balance zwischen Beruf und Familie

Haben Sie auch den Eindruck, dass die jahrelange mediale Alleinherrschaft von Alice Schwarzer über das Thema Emanzipation viele abgeschreckt hat?

Das würde ich mit Ja beantworten. Alice Schwarzer steht nicht für einen modernen Feminismus. Sie steht für sich selbst. Viele meinen, man müsse sich erst mit ihr auseinandersetzen, um Gehör zu bekommen. Den Fehler hat auch Familienministerin Kristina Schröder gemacht, als sie sich mit ihr angelegt hat. Bei Themen wie dem Unterhaltsgesetz, Arbeitsteilung in der Familie oder der Frauenquote hatte Frau Schwarzer öffentlich nichts zu sagen. Man kann das gut ohne sie diskutieren. Da gibt es ganz andere Frauen, etwa die Soziologin Jutta Allmendinger, die auch in diesen Bereichen forschen.

In Unternehmen spricht man heute gern von Diversity. Will man sich damit bewusst von der miesepetrigen Frauendebatte abheben?

Diversity klingt fortschrittlich, nach dem Motto: die Gleichberechtigung ist doch längst vollzogen. Das Denken ist aber leider oft genug gar nicht fortschrittlich, es traut sich nur keiner mehr das auszusprechen. In den 90ern war es vergleichsweise einfach im Büro gegen Diskriminierungen vorzugehen. Da sagte der Chef noch offen: "Wir sehen keine Zukunft für Sie in der Position, schließlich wollen Sie ja sicher Mutter werden." Das wäre heute ein No-go. Inzwischen läuft das auf einer subtilen Ebene ab.

Und was ist mit den modernen Männern?

Die trifft es genauso. Es gibt die engagierten Männer, die eine Balance finden wollen zwischen Beruf und Familie. Fragen Sie mal in den Väterberatungsstellen nach, was denen entgegenschlägt. Die werden als Leistungsträger aussortiert und gelten oft als Weicheier. Darüber spricht kaum jemand.

Warum fällt es Unternehmen so schwer, ein angemessenes Jobsharing anzubieten?

Zunächst müsste die Politik beim Elterngeld eine obligatorische 50-50-Lösung anstreben und die Aufteilung der Elternzeit nicht den Eltern überlassen. Das geht nach hinten los, das sieht man an den jungen Vätern, die fast ausnahmslos zwei Alibimonate und keinen Tag länger in Elternzeit gehen. Unternehmen müssen verstehen lernen, dass es um Familienmenschen geht, die man unterstützen sollte, in dem was sie gerne leisten möchten - egal ob Mann oder Frau.

Zumal wir in Zeiten von Home-Office leben.

Genau. Inzwischen werden bei Firmenfusionen ganze Unternehmenskulturen zusammengelegt und globale Strategien entworfen, es gibt Videokonferenzen über Kontinente hinweg - aber intern, beim Thema Vereinbarkeit von Familie und Job, ist man seltsamerweise längst nicht so offen. Wie wäre es mit etwas Change-Management? Es ist auch nicht einzusehen, dass Führungspositionen nicht teilbar sind. Es gibt Unternehmen, die das längst mit Erfolg praktizieren, zum Beispiel Microsoft. Es wird so lange behauptet, dies und jenes geht nicht anders, bis jemand das Gegenteil beweist.

Für sexuelle Selbstbestimmung

Slutwalks Lila Latzhosen waren einmal, die frauenbewegte Demonstrantin von heute trägt Strapse und Corsage. Bei den medial gut inszenierten Slutwalks (englisch für Schlampenmärsche) geht es um sexuelle Selbstbestimmung und den Respekt vor der persönlichen Entscheidung für oder gegen erotische Annäherungen. 

Auslöser Der kanadische Polizist Michael Sanguinetti erlaubte sich im Januar 2011 einen Fauxpas: Bei einem Vortrag über präventive Verbrechensbekämpfung an der York-Universität in Toronto vertrat er die Auffassung, dass „Frauen vermeiden sollten, sich wie Schlampen anzuziehen, um nicht Opfer zu werden“.

Bewegung Die Äußerung stieß sofort auf Ablehnung. Die darauf folgende Entschuldigung von Sanguinetti konnte einige Hundert Frauen nicht abhalten, am 3. April in Toronto auf die Straße zu gehen. In aufreizender Kleidung, teilweise halb nackt, protestierten sie gegen die Täter-Opfer-Umkehr in Vergewaltigungsfällen. Die Bewegung breitete sich aus. Weltweit fanden Slutwalks statt: in Stockholm, São Paulo, Paris oder Miami, in Deutschland am 23. Juli in Passau. Am 13. August gab es einen deutschlandweiten Slutwalk in Berlin, München, im Ruhrgebiet, Frankfurt, Stuttgart und Hamburg.

Für einen modernen Feminismus

Moderation Lisa Ortgies, 1966 im niedersächsischen Quakenbrück geboren, moderiert seit 1997 – mit kurzer Unterbrechung – die WDR-Sendung „FrauTV“. Zuvor besuchte sie die Henri-Nannen-Journalistenschule.

Intermezzo Im April 2008 übernahm Ortgies die Chefredaktion der Frauenzeitschrift "Emma" als Nachfolgerin von Alice Schwarzer. Bereits Ende Juni 2008 endete ihre Tätigkeit – in einem Zerwürfnis mit Schwarzer. Seit Februar 2009 moderiert die zweifache Mutter wieder "Frau TV". Ihr aktuelles Buch heißt "Heimspiel – Gegen Mamawahn und Papamythos."