Der frühere VfB-Profi Gilbert Gress spricht über die großen Probleme im französischen Fußball. Das Nationalteam kämpft am Dienstag gegen die Ukraine um seine letzte WM-Chance.

Stuttgart – - Gilbert Gress (71) zittert am Dienstag vor dem Fernseher mit, wenn Frankreich gegen die Ukraine um seine letzte WM-Chance kämpft. Der frühere VfB-Profi sieht die Entwicklung kritisch.
Herr Gress, Frankreich hat das erste WM-Relegationsspiel gegen die Ukraine am Freitag mit 0:2 verloren. Das ist eine schwere Hypothek für die entscheidende Partie am Dienstag in Paris. Dem Team droht das Aus.
Bevor ich jetzt aber die Franzosen kritisiere, will ich was anderes sagen. Die Ukraine war sehr stark – vor allem kämpferisch. Ich hatte das Gefühl, die stehen mit 13 Leuten auf dem Platz. Dass sie dieses Tempo bis zum Schluss durchhalten können, hätte ich nicht gedacht. Da wären auch andere Mannschaften untergegangen.
Wie Frankreich.
Bei uns war es die alte Leier. Wir sind von Franck Ribéry abhängig. Die Ukrainer hatten ihn im Griff. Das war’s. Aus dem Mittelfeld kommt seit eh und je zu wenig. Wir hatten im ganzen Spiel ja nur eine einzige Möglichkeit. Und wenn wir uns dann auch in der Abwehr noch wie Anfänger anstellen, muss man sich nicht wundern. Am Ende hatten wir ja sogar Glück, dass wir uns nicht noch das 0:3 eingefangen haben.
Das heißt, dass Sie nur noch geringe Chancen für die Teilnahme an der WM 2014 in Brasilien sehen?
Die Stimmung im Land ist so, als wären wir schon draußen. Wir haben ja auch kein so gutes Team wie 1998, als wir Weltmeister geworden sind. Aber ich glaube trotzdem, dass es nicht aussichtslos ist. Für mich steht es 51:49 für die Ukraine.
Das klingt sogar einigermaßen optimistisch.
Wir haben außer Ribéry auch noch Leute, die erstklassig sind – Samir Nasri beispielsweise oder Olivier Giroud. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sie es auch zeigen.
Warum tun sich die Franzosen international seit einigen Jahren so schwer?
Oh je, womit soll ich anfangen?
Vielleicht mit der Liga.
Da ist das Niveau nicht mehr besonders hoch. Das Geschehen wird von Paris St. Germain bestimmt. Die kaufen sich die Meisterschaft mit dem Geld, das ihnen die Scheichs aus Katar geben. Herzlichen Glückwunsch. In der Mannschaft steht mittlerweile nur noch ein einziger Franzose. Dabei hatte der Club mal eine sehr gut funktionierende Nachwuchsakademie.
Französischer Fußball adieu?
Nehmen wir Olympique Lyon. Die waren sieben Mal nacheinander in der Champions League. Jetzt haben sie sich einmal nicht dafür qualifiziert – und sofort war man gezwungen, die besten Spieler abzugeben. Alles bricht zusammen.Was ist das für eine Vereinsführung? Ich verstehe das nicht. Jetzt bauen sie in Lyon auch noch ein großes Stadion. Die glauben vermutlich, dass das Stadion die Tore schießen wird.
Der OSC Lille hat nach dem Gewinn der Meisterschaft im Sommer 2011 auch ein neues Stadion gebaut.
Und was war die Folge? Die besten Spieler wanderten dennoch nach England ab. Dort verdienen sie mehr, auch weil die Steuern niedriger sind als bei uns.
Ist der Leidtragende dieser Entwicklung der Nationaltrainer Didier Deschamps, weil aus dem Jugendbereich nicht viel Qualität nachkommt und seine Auswahl beschränkt ist?
Kann man so sagen. Ich denke nicht, dass er viel falsch macht. Kann er auch gar nicht. Welche Spieler soll er denn übersehen?
Werden diese Probleme analysiert?
Welche Probleme? Wir Franzosen haben doch keine Probleme. Wir sind ja so arrogant. Viele glauben immer noch, dass wir die Besten sind – auch die Nationalspieler übrigens. Und dann sind sie überrascht, wenn sie auf Gegenwehr stoßen.
Was würde es bedeuten, wenn Ihr Land in Brasilien nur Zuschauer wäre?
Bei der WM 1994 in den USA waren wir auch nicht dabei – und vier Jahre später wurden wir Weltmeister. Aber dass sich diese Geschichte 2018 wiederholen würde, denke ich nicht. Wenn wir jetzt nicht dabei sind, herrscht bei uns in den nächsten Monaten eine Katastrophenstimmung. Dann wird alles niedergemacht – zurecht.
Warum funktionieren denn die einst so vorbildlichen Nachwuchsakademien in den Clubs und im Verband nicht mehr?
Die jungen Spieler stammen oft aus sozial schwierigen Verhältnissen. Plötzlich sind sie vermeintlich oben. Dann fahren sie mit 18 oder 19 Jahren eben lieber einen Ferrari, als dass sie hart arbeiten. Das Geld kommt leicht rein – und wird genauso leicht oder noch leichter wieder ausgegeben.
Sie klingen verbittert.
Das sind schon Probleme. Bei uns geht es zu wie im Kindergarten.
Das dürfte aber kein rein französisches Phänomen sein, oder?
Ich vermute leider doch. Bei uns fehlt vielen jungen Leuten die Intelligenz. Im Ausland ist man intelligenter als in Frankreich. Das war schon früher so. Ich habe es gemerkt, als ich selbst in der Bundesliga gespielt habe. Da herrschte ein ganz anderes Niveau als bei uns – nicht nur auf dem Platz. Und heute ist es eher noch krasser.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Bei uns mangelt es oft an der Bildung. Viele junge Menschen können da mit 18 oder 19 Jahren noch nicht mal lesen. Und der Staat tut wenig dafür, dass sich das ändert.
Würde in Frankreich das Interesse am Fußball schwinden, wenn die WM-Qualifikation verpasst werden sollte?
Das Interesse wäre in diesem Fall schon noch vorhanden, aber Deutschland ist uns halt in jeder Beziehung voraus.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Etwa wenn es um die Vermarktung geht. Oder ums Fernsehen. In Deutschland überträgt die ARD seit 50 Jahren die Bundesliga – immer samstags ab 18 Uhr. Bei uns gibt es das nicht mal ansatzweise. Da geht es wie Kraut und Rüben durcheinander. Jedes Jahr wechseln Sender und Uhrzeit.
Aber in Deutschland gibt es auch ein sportliches Flaggschiff wie Paris St. Germain in Frankreich – den FC Bayern.
Aber die machen es anders. Sie holen zwar auch Ausländer, doch sie bilden daneben eigene Jugendspieler aus.
Das ist auch der Anspruch Ihres Ex-Clubs VfB Stuttgart.
Ich würde mir wünschen, dass der VfB wieder eine bessere Rolle spielt. Aber es war schon zu meiner Zeit so, dass der Verein zu schnell mit zu wenig zufrieden war. Der Ehrgeiz hat gefehlt, ganz große Ziele auch wirklich erreichen zu wollen.