Im abruzzischen Cocullo wird im Mai ein bizarrer christlicher Brauch gepflegt: Die Schlangenprozession zu Ehren des Dorfpatrons Dominikus.

Cocullo - Der Mann auf der Piazza Madonna delle Grazie könnte ein Alpinist sein. Er steckt in schlammverschmierten Bergstiefeln, trägt ein kariertes Baumwollhemd und hat ein wettergegerbtes Gesicht, das von einem schlohweißen Vollbart eingerahmt wird. In der Hand hält der Mann ein Knäuel. Es sieht aus wie ein schlampig aufgerolltes Kletterseil - ein Seilsalat, den zu entwirren unter normalen Umständen viel Zeit und Nerven kosten würde.

 

Doch in diesem Fall braucht der Bärtige überhaupt nichts zu tun. Denn plötzlich bewegen sich die Knoten und entwirren sich ganz von allein: Was der Mann auf der kopfsteingepflasterten Piazza spazieren trägt, sind Schlangen. Gut ein Dutzend ausgewachsener Nattern. Sie winden sich um seine Handgelenke, arbeiten sich an den Hemdärmeln empor und rollen sich dann wie Galgenstricke um seinen Hals. Einige halbwüchsige Mädchen kreischen entsetzt, umkreisen den Bärtigen aber wie Raubkatzen und schießen dann mit ausreichend Sicherheitsabstand etliche Fotos.

Ein kleiner Junge an der Hand seines Vaters zuckt zurück, als er mit einem Finger über die seidig glänzende Schlangenhaut streicht. Der Schlangenflüsterer ist nicht der einzige auf dieser Piazza. Auch andere haben sich Nattern um den Leib gewickelt und stolzieren damit wie herausgeputzte Magier. Serpari nennt man jene ausschließlich männlichen Bewohner, die einmal im Jahr Hunderte Reptilien in der näheren Umgebung einfangen, um damit am Festtag des Dorfpatrons San Domenico den traditionellen Schlangenritus zu vollziehen. Das seltsame Schauspiel findet in Cocullo statt, einem kleinen Flecken im wilden Herzen der Abruzzen. Über Jahrhunderte galt das Bergland östlich von Rom als Italiens Armenhaus.

Das negative Image der Region

Die Bildungsreisenden des 18. und 19. Jahrhunderts machten um die Abruzzen einen weiten Bogen - das von schroffen, bis zu 3000 Meter hohen Gipfeln und unzugänglichen Tälern zerklüftete Gebiet wollte so gar nicht zum Klischeebild von Bella Italia passen. „Man spricht von schlechtem Volk, von Unbequemlichkeit und Betrügerei, von Mördern und Banditen“ - mit diesen Worten beschrieb der aus Heilbronn stammende, 1830 in Rom verstorbene Schriftsteller Wilhelm Friedrich Waiblinger das wahrlich negative Image der Region. Über Generationen hinweg erzählten sich die abruzzischen Hirten Geschichten von Wölfen und Schlangen, von dämonenartigen Wesen, die Mensch und Vieh bedrohten. Aus dieser archaischen Zeit stammen Bräuche wie der „Rito dei Serpari“, die Schlangenprozession von Cocullo, die immer am ersten Donnerstag im Mai stattfindet.

Tausende Besucher pilgern alljährlich zu dieser Veranstaltung. Das Fest beginnt mit einer Heiligen Messe in der Chiesa San Domenico. Der Dorfpriester Don Carmine und zwei angereiste Kollegen leisten Schwerarbeit. Während Don Carmine vorn im Altarraum die Predigt hält, nehmen die anderen hinten die Beichte ab. Auf der Piazza vor der Kirche patrouillieren Carabinieri in Festuniform mit umgehängten Säbeln zwischen Tischen voll beladen mit duftendem Pecorinokäse, Mortadellawürsten und Bergen von Plastikspielzeug hin und her. Höhepunkt der Feierlichkeiten ist die Prozession. Angeführt von Fahnen- und Kreuzträgern, wird die hölzerne Statue des Heiligen Dominicus durch das Dorf getragen.

Der Schlangenkult wirkt zutiefst verstörend

Dann treten die Serpari in Aktion: indem sie die Figur des Dorfpatrons, der laut Überlieferung vor mehr als 1000 Jahren Cocullo von Bären, Wölfen und giftigen Schlangen befreite, über und über mit Schlangen behängen. In diesem Moment atavistischen Grauens herrscht plötzlich Stille. Alle halten gebannt den Atem an - wenig später zücken die meisten ihre Fotoapparate. Dass der bizarre Schlangenkult zutiefst verstörend wirken kann, zeigte sich vor einigen Jahren, als ein polnischer Aushilfspriester in Cocullo zu Gast war. Er hielt die Schlangenprozession für einen barbarischen Brauch und wollte die Dorfbewohner davon überzeugen, nur mehr den Heiligen durch die Gassen zu schleppen - ohne den wuselnden Reptilienschmuck.

Doch diese wollten davon nichts wissen. Sie verwiesen stattdessen auf das Volk der Marser, das einst in den hiesigen Bergen lebte und Angizia verehrte - eine Fruchtbarkeitsgöttin, die stets von Schlangen umgeben war. Erst im Lauf des Mittelalters, so hat es den Anschein, übernahm Dominikus dann einige Aufgaben seiner heidnischen Vorgängerin. Am Tag nach dem Umzug werden die Serpari mit einem Sack über den Schultern in die nahen Berge hinaufsteigen. Auch der Weißbärtige ist dabei. 67 Schlangen hat er heuer gefangen, darunter einen seltenen „Cervone“, eine fast zwei Meter lange Vierstreifennatter. Nattern sind die mit Abstand artenreichste Schlangenart.

Die Tradition verlange, sagt der Mann, dass man die Tiere dort wieder freilässt, wo man sie entdeckt hat. Ein Brauch, der einleuchtet. Schließlich ist es wohl ratsam, San Domenico und sein Schlangenheer nicht zu erzürnen.

Infos zu Abruzzen

Anreise
Mit Zug oder Flugzeug nach Rom, von dort fahren vom Bahnhof Tiburtina aus Busse nach Cocullo, Fahrtzeit ca. zwei Stunden, Fahrpläne unter www.ticketbus.it.

Unterkunft
Es gibt in Cocullo keine Hotels oder Pensionen. Daher empfiehlt es sich, in der Provinzhauptstadt Sulmona zu übernachten, zum Beispiel im Hotel Stella, Via Panfilo Mazara 18, Sulmona, HP 50 Euro pro Person, www.hasr.it .

Zu empfehlen ist außerdem das Hotel Rojan, Via degli Aggiacciati 15, Sulmona, DZ ab 120 Euro pro Nacht, www.hotelrojan.it .

Von dort erreicht man Cocullo mit Bus oder Taxi in gut einer halben Stunde.

Allgemeine Informationen
Tourismusauskunft Cocullo, Piazza Madonna delle Grazie, Cocullo (AQ), www.comune.anversa.aq.it , Italienische Zentrale für Tourismus, www.enit.it .