Bis zum letzten Elfmeter haben die Tifosi im Fellbacher Centro Italiano gezittert, dann gab es für die Fans kein Halten mehr. Der Stuttgarter Platz wurde zum großen Party-Ort.

Fellbach - Es ist doch nur ein Fußballspiel“ – aber was für eins. Der Buchstabe „a“ trennt zwei Nationen und am Schluss ein Elfmeter. Zwischen Traum und Trauma bewegten sich die Gefühle der rund 150 Tifosi, die sich – fast alle mit T-Shirts der italienischen Squadra Azzurra am Körper, den italienischen Nationalfarben auf Wangen oder Stirn gemalt und der grün-weiß-roten Flagge um die Schultern gebunden – vor dem großen, via Satellit auf die Wand projizierten Bild in den Vereinsräumen des Centro Italiano in der Schorndorfer Straße versammelt haben.

 

Drei Stunden lang bangen die Fans

Drei Stunden lang haben sie gebangt, gezittert, gehofft und am Ende gesiegt. „Jeder Elfmeter kostet mich zehn Jahre meines Lebens“, beschrieb Antonio seine Gefühle. Er war kurz nach Mitternacht sichtlich gezeichnet, aber natürlich enorm erleichtert. Francesco Santoro, Präsident im Centro, wagte nicht, an das Glück zu glauben. Am Nachmittag hatte er – wie schon beim Halbfinale – in SWR3 Fragen rund um den Fußball im Allgemeinen und den italienischen im Speziellen zum Besten gegeben. Es hat offensichtlich Glück gebracht, freut er sich. Am Montag hat er sich deshalb bei den Radioleuten von SWR3 für die glückliche „opportunità“ – Gelegenheit – bedankt.

Drei von den Engländern verschossene Elfmeter

Drei von den Engländern verschossene Elfmeter waren am Ende halt einer zu viel. So schön und so grausam kann Fußball sein. Dieses Mal sind die Italiener die Sieger und zeigen, wie man ohne Hohn und Häme, ohne Alkoholexzesse und Animositäten gegen den Vize-Europameister, auch wenn er aus England kommt, und ohne Nachtreten feiern und sich freuen kann. Auch die Polizei zieht eine positive Bilanz und vermeldet „keine besonderen Vorkommnisse“. Sie hatte zur Sicherheit zusätzlich die Reiterstaffel und Bereitschaftspolizei vor Ort.

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Als in der zweiten Minute die Engländer sich mit einem Tor in Führung geschossen haben, sind die Italiener im Centro abrupt verstummt. Den Text der Nationalhymne hatten sie noch auf den Lippen und den Bauch gut gefüllt mit Spätzle, Rahmsoße und Putenschnitzel. Essen und Geselligkeit gehören eben zum italienischen Lebensgefühl. Dass Pina für die rund 150 weiblichen und männlichen Tifosi just ein schwäbisches Gericht zur Einstimmung auf das Finale im Centro vorbereitet hat, zeigt, wie fest verwurzelt Italiener in Fellbach sind. Die ersten von ihnen kamen vor rund 50 Jahren; mittlerweile sind es knapp 3000 – viele aus Cariati.

Die Nacht wird zum Tag gemacht

Von Samstag auf Sonntag hatten sie die Nacht mal wieder zum Tag gemacht. Abenteuerlich und anstrengend zuweilen der Weg dorthin. Ansteckend, aber diszipliniert dann die unbändige Freude. Im Centro. In den Wohnstuben, wo Fenster und Balkontüren offen standen. Und in der Freiluftgastronomie, prall gefüllt rund um den Stuttgarter Platz. Er war nach dem Sieg wieder mal Treffpunkt der Tifosi aus nah und fern. Die Polizei hatte die Kreuzung am Stuttgarter Platz vorsorglich aus dem Verkehrsfluss genommenen und für alle Autofahrer gesperrt. Kurz nach Mitternacht war er dann geflutet von blauen T-Shirts, grün-weiß-roten Fahnen und jubelnden, singenden und überglücklichen Menschen. Alkohol schien dabei kein probates Mittel zu sein, um diese Freude zu steigern. Die Autokorsos spielten sich im Umfeld ab, die Menschen strömten aus allen Richtungen zu Fuß zur Kreuzung. Sie waren bestens vorbereitet – mit der Trikolore als Fahne, Schal, Girlande oder Hut. Ein Farbenmeer. Viele haben sich darin gebadet und mitgesungen bei „Un‘ estate italiana“ oder „notti magiche“.

Es bleibt ein schönes, eindrucksvolles Bild. Vor allem nach einem extrem harten Corona-Jahr für die Italiener, in dem besonders traurige Bilder und Nachrichten aus ihrem Heimatland um die Welt gingen. Viele hier lebende Italiener waren zuletzt an Weihnachten 2019 in Bella Italia, jetzt freuen sie sich auf die Sommerferien und das Wiedersehen mit ihren Verwandten. Und eventuell eine Geste aus dem Fellbacher Rathaus, wo schon vor Jahren angedacht war, mit dem kalabresischen Cariati eine Freundschaft einzugehen. Ein Traum, der wahr werden könnte. Hoffentlich braucht es dafür keine 55 Jahre wie bei der Europameisterschaft.