Itay Tiran gilt als „König des israelischen Theaters“ und wichtige politische Stimme seines Landes. Mit Glück und Geschick hat ihn der Intendant Burkhard Kosminski ins Stuttgarter Schauspiel gelockt, wo er am Freitag in der Familiensaga „Vögel“ zu sehen ist.

Stuttgart - In Israel ist Itay Tiran ein Star. Acht Jahre und tausend Vorstellungen lang hat er im Cameri-Theater von Tel Aviv Hamlet verkörpert. Er ging mit der Shakespeare-Inszenierung auf Tour und wurde in Washington, Moskau, Danzig und Schanghai gefeiert. Er drehte international fürs Kino und fürs Fernsehen, für die BBC das Palästina-Drama „Gelobtes Land“, für die ARD die Israel-Krimis aus Tel Aviv. Zuletzt stand er mit Ben Kingsley und Monica Bellucci in den Niederlanden für den Thriller „Spider in the Web“ vor der Kamera, worin er neben „Sir Ben“ die Hauptrolle spielt. „Israel’s No. 1“ sei er, schwärmte die Tageszeitung „Haaretz“, Leitmedium des Landes, weshalb der Aufruhr groß war, als der auch politisch engagierte Schauspieler im August seine Heimat verließ. „Geht er ins Exil?“ fragte nicht nur die „Haaretz“, sondern die halbe israelische Öffentlichkeit.

 

Mittlerweile ist der 38-jährige Tiran, der fließend Englisch und gut Deutsch spricht, an seinem neuen Arbeitsplatz angekommen. Mit Glück und Geschick hat ihn Burkhard Kosminski ins Stuttgarter Schauspiel gelockt, wo dem Mann mit dem bübischen Lächeln bereits zur Intendanzeröffnung eine tragende Rolle zukommt. Am Freitag gibt er in Wajdi Mouawads Familientragödie „Vögel“ den in Berlin lebenden Juden David, der sich in der von Kosminski selbst inszenierten Saga als „dunkler Charakter mit enormer Wut“ erweist, wie Tiran sagt. Dunkel ist David, weil ihn ein Geheimnis umgibt, und wütend, weil er sich von seinem in New York studierenden Sohn Eitan verraten fühlt: Eitan liebt Wahida, eine Amerikanerin mit arabischen Wurzeln.

Wie ein Urvater des Alten Testaments

Wie dieser nicht alltägliche Vater-Sohn-Konflikt auf der Bühne aussieht, konnte man am vergangenen Sonntag bei einer Schauspiel-Matinee sehen: der Sohn hat seine aus Berlin eingeflogenen Eltern zum Pessach-Fest nach New York eingeladen – und als er ihnen an der weiß gedeckten Tafel seine Liebe zu Wahida offenbart, verliert David die Fassung. Mit zorngeballten Fäusten laut werdend, erinnert er an einen alttestamentarischen Urvater, der Rache nimmt am sündigen Sohn. „Du verunreinigst unser Blut“, schleudert er Eitan auf Hebräisch entgegen, „du trägst zum Verschwinden unseres Volkes bei.“ Unaufhaltsam kocht in David ein zionistischer Furor hoch, den Itay Tiran zwar identifikatorisch darstellt, mit dem er sich aber keineswegs identifiziert. „Meine Figur“, sagt er, „ist Rassist und Nationalist.“ In der Inszenierung, in der neben Deutsch und Hebräisch noch Englisch und Arabisch gesprochen wird, vertritt er also genau jene Positionen, gegen die er als politisch engagierter Zeitgenosse seine Stimme erhebt: Israels No. 1 im Theater war auch häufig No. 1 auf der Liste unerwünschter Personen. „Im Exil“, sagt Tiran, „bin ich trotzdem nicht. Niemand hat mich gezwungen zu gehen.“

Freilich hält er sich auch in der Fremde mit Kritik an der Heimat nicht zurück. „Die Rechte in Israel wird immer rechter und die Justiz immer autoritärer, wie das aktuelle Loyalitätsgesetz beweist: Es verbietet staatlich geförderten Institutionen, Kritik an den Machthabern zu üben“, sagt Tiran, der selbst keiner Partei, keiner Bewegung angehört. Verpflichtet fühle er sich nur dem Humanismus seiner Eltern, woraus er auch seine so unerschrockene wie angreifbare Haltung zur weltweit operierenden BDS-Kampagne ableitet. Mit Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen – daher das Kürzel – wollen die BDS-Aktivisten Israel zwingen, die Besetzung Palästinas zu beenden. Dass in diesem Verein auch Antisemiten mitmischen, die Israel das Existenzrecht absprechen, weiß Tiran. Mit Bauchgrimmen nimmt er es – seine schwedische Großmutter überlebte Auschwitz – in Kauf. „Für alle Formen der Auseinandersetzung, die Krieg, Terror und Blutvergießen auf beiden Seiten verhindern, habe ich Verständnis. Deshalb halte ich jeden gewaltfreien Protest gegen die israelische Besatzung für legitim. Wie sollten sich die Palästinenser denn sonst zur Wehr setzen?“

Ein Paar, zwei Katzen und vier Pferde

Man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, welche Anfeindungen solche Äußerungen in Israel nach sich ziehen. Sie polarisieren ja schon in Deutschland, wo Tiran sich nun eine Auszeit – nein, nicht von der Politik, sondern vom Ruhm nimmt. Tatsächlich sei das der Grund für seinen Auszug aus Israel gewesen: das Gefühl, bei allem künstlerischen Erfolg satt, bequem und träge geworden zu sein. Seinem Wunsch nach Veränderung kam das Stuttgarter Angebot also sehr entgegen. Und überhaupt: Deutschland ist ihm nicht unbekannt. Seine Freundin ist in Berlin geboren und fünfzehnjährig mit ihrer Mutter nach Israel ausgewandert. Jetzt ist auch sie zurückgekehrt, allerdings weder nach Berlin noch nach Stuttgart, sondern in die Lüneburger Heide, wo sie auf einem Gestüt ihrem Beruf als Pferdezüchterin nachgeht. „Unser Umzug war wie eine Arche Noah“, sagt Itay Tiran, „ein Mann, eine Frau, zwei Katzen und vier Araberpferde.“

Aber warum – Kosminski hin, Kosminski her – spuckte ihn die Arche ausgerechnet in Stuttgart an Land? Hätte sich der „König des israelischen Theaters“, wie ihn die „Haaretz“ genannt hat, nicht jede deutschsprachige Bühne aussuchen können? Ja, hätte er. Aber Tiran begründet seine Ortswahl mit einer Gegenfrage: „Warum nicht Stuttgart? Die Stadt ist grün, hat eine tolle Topografie, tolle Kneipen, tolle Theater.“ Und Tel Aviv, den Strand und das Meer sieht er sowieso bald wieder. Nach der ersten Vorstellungsserie der „Vögel“ fliegt er zurück in die Heimat, um seinem Zweitberuf nachzugehen. Opernregisseur ist König Tiran nämlich auch noch.