Ein Jahr nach den Terroranschlägen von Paris werden die Überlebenden noch immer von ihren Erinnerungen an das Grauen heimgesucht. Viele haben mit der Rückkehr in ihr altes Leben zu kämpfen.

Paris - Die Flashbacks holen Denys Plaud völlig unvermittelt ein. Dann durchlebt er noch einmal seine Angst von vor einem Jahr, als er in seinem Versteck im „Bataclan“ kauerte. Er erinnert sich an die ohrenbetäubenden Schüsse und die quälende Stille dazwischen. Und schließlich sieht er sich selbst, als endlich alles vorbei war: Als er über die Toten auf dem Boden stieg, um aus dem Pariser Konzertsaal zu kommen. Wie der 48-jährige Plaud versuchen viele Überlebende der Terroranschläge heute, ihren Blick in die Zukunft zu richten. Doch vergessen werden sie den Horror nie.

 

Mehr als 1700 Menschen wurden offiziell als Opfer der Gewalt anerkannt, mit der Dschihadisten am 13. November 2015 das „Bataclan“, Pariser Cafés und das Stadion Stade de France überzogen. 130 Menschen kamen ums Leben, neun Verletzte liegen noch immer im Krankenhaus, andere sind querschnittsgelähmt oder auf andere Weise irreparabel verletzt. Mehr als 600 Betroffene befinden sich nach Angaben der französischen Regierung noch in psychologischer Behandlung.

Das eine Jahr sei für ihn die Mindestzeit gewesen, um sich zu erholen und um die Toten zu trauern, erklärt Plaud, der als Nachhilfelehrer für Mathematik und Physik arbeitet. „Wie ein Veteran werde ich für immer mit diesen schrecklichen Erinnerungen leben müssen“, sagt er der Nachrichtenagentur AP. „Man kann sie nicht verschwinden lassen. Man kann nur lernen, mit ihnen zu leben.“

Um das Grauen zu verarbeiten, hat Plaud ein Buch geschrieben. Auch Gregory Reibenberg, Inhaber des Cafés „La Belle Equipe“, schrieb seine Erinnerungen auf. In dem Café wurden 19 Menschen erschossen, darunter Reibenbergs Ehefrau Djamila. Mit seinem Buch will er auch seiner neunjährigen Tochter Tess bei der Verarbeitung des Verlusts helfen und „im Sinnlosen einen Sinn finden“, wie er sagt. Ein anderer Überlebender verarbeitete den Terror in einem Comic, in dem er die Attentäter als Skelette darstellt.

Ein blutiges Schlachtfeld im Konzertsaal

Kurz vor der großen Gedenkfeier zum Jahrestag der Anschläge in Frankreich wirkt Plaud noch immer überrascht darüber, dass er in jener Nacht mit dem Leben davon kam. Er hatte während des Konzerts der kalifornischen Rockband Eagles of Death Metal gerade den Innenraum verlassen, um sich auf der Empore mehr Platz zum Tanzen zu suchen, als die ersten Schüsse fielen.

„Ich habe etwas gehört, was wie ein Feuerwerk klang, und in den ersten Sekunden dachte ich, dass jemand die Show stört - oder dass es vielleicht Teil der Show ist“, erinnert sich der 48-Jährige. „Aber als ich Schüsse hörte und Schreie von Leuten, die getroffen wurden, habe ich mir selbst gesagt, dass da etwas nicht in Ordnung ist. Dann bin ich losgerannt.“

Zusammen mit 15 anderen Konzertbesuchern suchte Plaud Zuflucht in einem kleinen Raum und rief die Polizei. Die Beamten forderten die verängstigen Anrufer auf, bis zum Eintreffen der Rettungskräfte Ruhe zu bewahren. Bis dahin vergingen noch fast drei Stunden.

„Wir haben Schüsse und Schreie gehört, und als wir dachten es sei vorbei, haben die Terroristen nur ihre Waffen neu geladen und dann weiter geschossen“, sagt er. Einmal schlugen Kugeln in die Wand ein, an die er sich quetschte, und er spürte die Erschütterungen durch das Mauerwerk.

„Als endlich die Rettungskräfte eintrafen, um uns in Sicherheit zu bringen, sind wir von diesem dunklen, winzigen Raum ins Helle auf ein blutiges Schlachtfeld getreten“, erinnert sich Plaud. „Alle fünf Meter haben Polizisten mich aufgefordert: „Sehen Sie nicht hin, Herr, sie sind tot, Sie können nichts tun.““ Aber „es waren so viele Leichen, dass ich schauen musste, wo ich hintrete.“ Noch heute überwältigen ihn die Erinnerungen manchmal beim Unterricht, den er dann abbrechen muss.

Manche Opfer leiden noch an ihren Verletzungen

Manche Betroffenen quälen sich mit der Frage, warum gerade sie überlebt haben. Andere wie Daniel Psenny leiden noch immer unter ihren Verletzungen. Der Journalist der Tageszeitung „Le Monde“ arbeitete gerade in seinem Homeoffice gegenüber des „Bataclans“, als er Schüsse hörte und sah, wie Menschen in Panik durch den Notausgang und durch Fenster ins Freie flüchteten. Er ging hinüber, um zu helfen und zog einen verletzten Amerikaner in sein Gebäude. Als er die Hand ausstreckte, um die Eingangstür zu schließen, wurde er von einem Schuss in den Arm getroffen.

Noch heute ist Psenny deswegen in physiotherapeutischer Behandlung, weil die Kugel Nervenenden verbrannt hatte. „Ich habe einen Teil der Empfindung und der Beweglichkeit in einigen Fingern eingebüßt“, erklärt er. „Es ist etwas besser als vor einem Jahr, weil ich auf den Beinen und am Leben bin. Aber es ist ziemlich mühsam und anstrengend.“

„Wir sind nicht mehr diejenigen, die wir einmal waren“, sagt der Journalist. „Es gibt eine Zeit vor dem 13. November und eine Zeit danach, was die Lebensweise und den Blick auf die Welt angeht, selbst wenn wir so wie ich wieder auf Konzerte und ins Kino gehen, in Flugzeuge steigen und unser Leben weiterleben.“