Ist der Psychiater Mathias Freire wirklich Arzt? Oder nicht vielmehr selbst ein Patient? Am Ende ein Serienmörder? Jean-Christophe Grangé lässt uns an allem zweifeln.

Lokales: Hans Jörg Wangner (hwe)

Stuttgart - Mathias Freire ist ein Psychiater, der ohne nennenswerte soziale Kontakte in Bordeaux seinen Klinikdienst versieht. Ein einsamer, verschlossener Charakter. In dieser kantigen Darstellung könnte er auch einem Comic entstammen – kein Wunder im Land der „Bandes dessinées“, wie die gezeichneten Geschichten in Frankreich heißen, wo sie einen ganz anderen künstlerischen Stellenwert haben als bei uns.

 

Freire jedenfalls verkörpert in Jean-Christophe Grangés Thriller „Der Ursprung des Bösen“ von Anfang an eine typisch französische Coolness, und auch die anderen Figuren könnte man sich gut gezeichnet in einer „Bédé“ vorstellen – allen voran Anaïs Chatelet, die Freire als Kommissarin auf den Fersen ist.

Psychisch ganz gesund ist keiner

Denn der Verschlossene, das wird ziemlich schnell klar, ist nicht nur Psychiater, er hat auch selber ein ernstes psychisches Problem. Nicht nur einer seiner Patienten, der in der Nähe eines übel zugerichteten Mordopfers aufgegriffen wurde, leidet an Gedächtnisverlust, sondern auch er selbst.

Freire gerät ins Visier der Ermittler, die ihn dieser Tat und anderer Morde verdächtigen - allesamt nach Motiven aus der griechischen Mythologie inszeniert. Anaïs Chatelet glaubt zwar nicht an seine Schuld (ohnehin hat sie an Freire mehr als nur professionelles Interesse), kommt aber ihrerseits böse mit der Justiz in Konflikt. Und dann hat sie – die Tochter eines französischen Großbürgers, der einst sozusagen als Gastarbeiter in Chile im Auftrag der Militärjunta folterte - selber noch ihr psychisches Päckchen zu tragen…

Penner, Künstler, Fälscher

Auf seiner aberwitzigen Flucht durch halb Frankreich wechselt Mathias Freire immer wieder unversehens die Identität, aus dem Arzt wird ein Penner, ein psychisch kranker Künstler, ein genialer Fälscher und wieder ein Arzt. Die Reise gerät zur Odyssee durch die eigenen Persönlichkeiten, die er als Opfer eines Arzneimittelversuchs durchlebt hat und die ihn auf der Flucht vor der Polizei und den Schergen eines ominösen Großkonzerns der Wahrheit immer näher bringen.

Ganz am Ende dieser atemlosen, 860 Seiten langen Tour de Force steht ein überraschender Vater-Sohn-Konflikt, bei dem es dann auch keine Gewinner mehr geben kann. Das mag trost- und hoffnungslos sein. Es ist aber mit Sicherheit auch eins: Cool. Assez cool.

PS.: Krimifreunde mit ausgeprägter Schlangenphobie sollten es sich vielleicht zweimal überlegen, ob sie den „Ursprung des Bösen“ lesen. Oder aber sie überblättern ganz schnell die Seite 293 – sie ist eh für den weiteren Verlauf der Handlung nicht wichtig.

Jean-Christophe Grangé: Der Ursprung des Bösen. Aus dem Französischen von Ulrike Werner-Richter. Lübbe Verlag, Köln, 2012. 860 Seiten, 19,99 Euro. Auch als gekürztes sowie als ungekürztes Hörbuch (13,95 Euro/ 34,95 Euro) und als E-Book (15,99 Euro) erhältlich.