Zum Auftakt der Jazz Open nehmen Joachim und Rolf Kühn in der Sparda-Welt die German Jazz Trophy entgegen.

Stuttgart - Bruderbeziehungen sind das Ergebnis einer großen Intimität, die nicht gewählt, sondern auferlegt wurde. Das ist das Problem. Pointiert könnte man sagen, Bruderschaft sei eine chronische Liebeskrankheit mit Momenten geteilten Glücks, inniger Komplizenschaft, mit gemeinsamen Erinnerungen, die weit zurückreichen, aber auch mit Rivalität und Eifersucht. Doch gibt es ein Mittel, das Wunden heilt: die Musik.

 

Beim gemeinsamen Musizieren „spricht Seele zu Seele“, wie ein Diktum von Berthold Auerbach lautet. Abseits aller Konkurrenzverhältnisse können Brüder in der Musik ihr Bestes geben, ihre Verbundenheit ausdrücken, Konflikte sublimieren. Yehudi Menuhin sprach vom „Hören auf andere Stimmen, Gegenstimmen und Dissonanzen“ und schloss daraus: „Die Regeln der Musik spiegeln das Leben selbst.“ Besonders beim Improvisieren öffnet sich Jazzmusikern ein wunderbarer Klangraum, in dem Kultiviertes und Rohes, Geschmeidiges und Raues, Fluss und Widerstand in Einklang gebracht werden kann.

Zunächst der „Junior“

Tief beugt sich Joachim Kühn, der 74-jährige Wuschelkopf mit geschlossenen Augen und vorgewölbter Unterlippe über die Tasten aus Elfenbein und Ebenholz, bewegt sein Haupt wie in Trance hin und her und beginnt derart virtuos zu spielen, dass man sogleich versteht, warum er auch „der Franz Liszt des Jazz“ genannt wird. Sein Credo: Man muss frei sein, um frei improvisieren zu können. Er bemerkt spöttisch, er halte wenig von „Kötern, Katzen und Kindern“ und wolle sich partout nicht binden. Eine seiner Kompositionen heißt denn auch „One, Two, Free“. Seit über zwanzig Jahren lebt er auf Ibiza („mein Paradies“) und spielt täglich mehrere Stunden Klavier. „Ich übe nicht Technik, ich übe Musik.“ Dabei schaltet er das Denken ab und nennt das im Gespräch vor dem Konzert „einen wunderbaren Zustand, Urlaub fürs Gehirn“. In seinen Improvisationen verbinden sich Cluster und Dissonanzen mit romantischen und impressionistischen Traditionen, die er rockend oder swingend in Bewegung setzt.

Im Zusammenspiel mit dem älteren Bruder, der so viele Jahre zählt wie mancher Flügel Tasten hat, nämlich 88, geht es stets um Verständnis und Kommunikation, um Empfangen und Senden. Rolf Kühn lädt die Ausflüge seines Bruders ins Freie mit Sehnsucht, Trauer, Hoffnung und Wut emotional auf. Die Klarinette, die ihren Namen dem Klang der hohen Clarin-Trompete verdankt, lässt er scharf oder warm, weich gehaucht oder laut jubilierend klingen. Joachim, der die wilde Free-Jazz-Zeit als 68-er in Paris erlebt hat, verzichtet dann auf Atonalitäten und versenkt sich in harmonische Schönheiten. Erfreutes Lächeln allenthalben.

Veteranen mit bunter Vita

Das Publikum erlebt ein außergewöhnliches Jazzduo, das in der Sparda-Welt am Hauptbahnhof auch ohne Rhythmusgruppe fasziniert und spielerisch sein ganz eigenes Verständnis von europäischem Gegenwartsjazz feiert. Kühn – ein Name, der verpflichtet. Beide sind sie auf der Suche nach Wahrhaftigkeit, sie verachten das Mittelmaß und sind neugierig auf Unerhörtes. „Researching Has No Limits“, eine Ornette-Coleman-Nummer, haben sie bezeichnenderweise als Zugabe gewählt.

Joachim Kühn wurde 1958 in der Leipziger Thomas-Kirche konfirmiert und hat dort vier Jahrzehnte später mit Christoph Biller, dem 16. Nachfolger von Johann Sebastian Bach, das Projekt „Bach Now“ realisiert. Als Baby hörte Joachim den großen Bruder Jazz auf der Klarinette spielen und dessen Swing-Schallplatten. Und als er zehn war, nahm ihn Rolf mit zu einem Konzert von Chet Baker nach West-Berlin. Seit diesem Abend spürte der kleine Joachim, dass er Jazzmusiker werden wollte. Nichts anderes. Das ist er tatsächlich geworden, und zwar einer der wichtigsten stilbildenden und vielseitigsten Grenzgänger des europäischen Jazz.

Sein Bruder Rolf, der bei Hans Benninger studierte, dem Soloklarinettisten des Gewandhausorchesters Leipzig, übersiedelte nach Amerika, gastierte in New York mit Caterina Valente, spielte im Orchester von Benny Goodman und in der Bigband von Tommy Dorsey. Er kehrte in die Heimat zurück und leitete ab 1962 das NDR-Fernsehorchester, spielte als Solist bei den German All Stars mit Koryphäen wie Albert Mangelsdorff oder Wolfgang Dauner und nahm bei den wichtigsten Jazz-Labels zahlreiche Alben auf. Auch bis ins hohe Alter bleibt er aktiv, hat immer noch einen erstaunlich kraftvollen und frischen Ton und ist nach wie vor als eine herausragende Figur des nationalen und internationalen Jazz anerkannt.

Die Devise der beiden Brüder lautet: Spielen bis zum Umfallen. Anders gesagt: Jazz ist ihr Leben.