In Netzdebatten werden Künstler immer öfter nur noch akzeptiert, wenn sie im Dienst einer Sache stehen, ob nun links oder rechts. Das ist brandgefährlich.

Stuttgart - In der Netzöffentlichkeit macht sich ein fragwürdiges Kunst- und Kulturverständnis breit. Auf Plattformen wie Facebook oder Twitter zählen diejenigen Stimmen zu den lautesten, die Kunstwerke nur als Spiegelbilder ihrer Autoren wahrnehmen oder sie auf Instrumente im Dienste einer Sache reduzieren. Kommen Werke „aus der falschen Ecke“, erfüllen sie keinen unmissverständlich „guten“ Zweck, dann werden sie ignoriert oder als reaktionär abgetan. Was falsch und richtig ist, versteht sich jeweils von selbst. Das ist brandgefährlich. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich alle möglichen Gruppen überaus sicher waren, was richtig und was falsch ist – ob die Christen auf den Kreuzzügen, die Jakobiner bei der Marginalisierung der revolutionären Frauen, die Bolschewiki beim Errichten der Gulags oder die Faschisten beim Lob des Krieges als reinigender Kraft.

 

Autoritär ist, wenn man Mehrdeutigkeit nicht erträgt

Hätte eine Frau Eugen Gomringers im Jahre 2017 als sexistisch verunglimpftes Gedicht „Avenidas“ verfasst, wäre der Protest wohl schwächer ausgefallen. Umgekehrt diffamieren Rechte den zeitgenössischen Kunstbetrieb, weil sie darin nur das Vehikel einer missliebigen politischen Agenda und ihnen nicht genehmer Lebensstile erkennen. In beiden Fällen wird Kunst als bloßer Abglanz eines Bildes aufgefasst, das man sich zuvor ex cathedra von der betreffenden Gruppe gemacht hat: hier alte, weiße Männer, dort junge, radikale Künstler*innen. Je nachdem, mit wem man sich identifiziert, gelten die jeweiligen Werke als legitim oder nicht. Dass viele Texte klüger sind als ihre Autorinnen? Dass der Reiz von Kunst auch in Ambivalenz und poetischer Offenheit besteht? Schnee von gestern. Die Psychologin Else Frenkel-Brunswik schrieb schon in den 1940er Jahren, ein Kennzeichen des autoritären Charakters sei die Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit.

Im Verhältnis Mensch zu Mensch

Galt es bis vor kurzem als ausgemacht, dass Kunstwerke zwar unter bestimmten Bedingungen entstehen, aber in der Rezeption ein Eigenleben entfalten, gerät diese Einsicht nun ins Hintertreffen. Die Verflanschung von Werk und Autor geht nicht nur auf Kosten der Freiheit, sie begünstigt auch denkfaule Kritik: X kommt von Y – also muss es schlecht sein! Irgendwie waren wir da schon mal weiter. 1949 sagte Theodor Heuss: „Wir dürfen nicht immer sagen: Er ist ein Franzose – also; er ist ein Engländer – also; er ist ein Deutscher – also; er ist ein Jude – also. Nein, so geht es nicht. Wir müssen im Verhältnis Mensch zu Mensch eine freie Bewertung des Menschentums zurückgewinnen.“ Heute müsste man hinzufügen: nicht nur im Verhältnis Mensch zu Mensch, sondern auch im Verhältnis Mensch zu Kunstwerk.