Sie müssen sich blitzschnell auf eine Bandbreite von Tanzstilen einstellen: Im Stuttgarter Opernhaus bewiesen die Akademie-Absolventen aus der Cranko-Schule, dass sie fit für ihren Beruf sind.

Stuttgart - Sie erinnern an antike Statuen. Weit recken die Tänzerinnen ihre Arme gen Himmel, beseelt lächelnd. Auch als sie von ihren männlichen Gegenparts galant gekippt, mit ausgestrecktem Arm zur Seite zu gezogen werden, wirkt das leicht, elegant, wie Perlen an einer Kette. Dabei vollführen die Paare Hebungen und Figuren höchster Schwierigkeitsgrade. In seiner Choreografie zu Johann Sebastian Bachs „Air“ bewies der geniale Tanzschaffende Uwe Scholz 1982 einmal mehr, mit welcher Musikalität er gesegnet war. Der zu früh Verstorbene hätte in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag gefeiert. Nun brachte Tadeusz Matacz, Direktor der John-Cranko-Schule, „Air“ wieder auf die Bühne. Und wie dies Studierende der Akademie A und B bei der 20. Jahresabschlussvorstellung der John-Cranko-Schule interpretierten, das war mehr als Tanz. Die sechs Paare – in feinsinnig abgestimmten Leotards der Nuancen Vanille, Schoko und Rost gekleidet – schienen Scholz’ neoklassische Analyse der Bach’schen Kompositionsstruktur regelrecht zu leben. Jede Bewegung eine Note, jede Figur eine Aussage für die Kunst als Wert für sich. Zwei Paare brachten den berühmten zweiten Satz auf den Punkt: komplexe Hebungen, himmelnahe Attitüden im Wechsel, so kraftvoll wie sanft, so dynamisch wie akzentuiert durch Pausen.

 

Verschlungene Figuren

Bei dieser Matinee im Opernhaus spielten denn auch die Akademieschüler eine Hauptrolle. Nach Matacz ist eine der größten Herausforderung für die junge Tänzergeneration, sich blitzschnell auf die „unglaubliche Bandbreite von Tanzstilen“ einzustellen. Entsprechend war die Bandbreite des Programms, in dem zwei Stücke von Georges Balanchine den (neo-)klassischen Tanz repräsentierten. Zum Auftakt erfüllten Aina Oki und Motomi Kiyoata im „Sylvia Pas de deux“ Balanchines höchst anspruchsvolle Vorgaben aufs Beste: schnelle Drehungen, kraftvolle Sprünge, eindrucksvolle Hebungen. Dasselbe galt für dessen „Glinka Pas de trois“. Miu Tanaka, Alessandra Bramante und Gabriel Figueredo gaben den tänzerischen Flirt eines jungen Mannes mit zwei ebenso jungen Damen gekonnt, frisch und fröhlich. Unter die Haut ging Stephen Shropshires „Lamento della Ninfa“ zur Musik von Ane Brun. Die norwegische Songwriterin hat Claudio Monteverdis Liebesklage einer Nymphe neu interpretiert. Das taten ebenso Wiktoria Byczkowska, Henrik Erikson und Alexander Smith, als sie sich in Figuren ver- und umschlangen, schleiften, hoben, dabei fast immer per Arm oder Bein verbunden. Ergreifend auch „Alrededor no hay nada“, das Goyo Montero zu den Worten des Autors und Liedermachers Joaquín Sabina sowie des Dichters Vinícius de Moraes choreografierte: fünf Paare mit Bowler-Hats im Halbdunkel sich anstupsend, tragend, beobachtend oder im Liebestaumel ergehend auf der Suche nach dem „Ringsherum ist nichts“.

Das Dunkel verwandelte sich dann in Marco Goeckes Neufassung seines „A Spell On You“ zur Musik Nina Simones in einen unendlichen Sternenhimmel. Aufwühlend wie drei Männer und eine Frau zuvor in verschiedenen Konstellationen Sinn suchten, Körperteile einzeln bewegend, angespannt zitternd, bis dann ein Einsamer erst auf sich, dann – zack – auf das Publikum zeigte. Licht aus, ein Ende, das knallt! Doch freilich durften zum Abschluss alle Schülerinnen und Schüler auf die Bühne und demonstrierten mit Teil der „Etüden“ eine Feier des klassischen Balletts unter Kronleuchtern. Wer diese in kompletter Länge sehen will: Am 21. Juli zur Festwoche für den scheidenden Intendanten Reid Anderson wird das Programm auf dessen Wunsch – leicht abgeändert – nochmals gezeigt.