Ein authentischer Blick in die Welt der Spione auf beiden Seiten der einstigen Mauer? John le Carré streitet das seit 50 Jahren ab. „Der Spion, der aus der Kälte kam“ hat trotzdem nichts an Spannung und Kolorit verloren.

Manteldesk: Thomas Schwarz (hsw)

Stuttgart - Bürotratsch kann eine ziemlich hässliche Sache sein. Man kennt das ja: hinter dem Rücken von Kollegen wird Zeug verbreitet, das halbwahr, wahr, unwahr oder schlicht bösartig ist. Gut vorstellbar, dass in einer Firma, in der alles vertraulich oder sogar streng geheim ist, Tratsch wie Efeu wuchert – in der Zentrale eines Geheimdienstes nämlich. 1963 hat John le Carré die Leser seines Spionageromans „Der Spion, der aus der Kälte kam“, einen scheinbar authentischen Blick in das Innere des englischen Secret Service werfen lassen, inklusive Bürotratsch, der dort sogar als strategisches Instrument benutzt wird.

 

Büro-Tristesse statt exotischer Schauplätze

Die Zentrale des Secret Service am Cambridge Circus in London beschreibt John le Carré als muffige Behörde voller Bürokratie, und deren Leiter namens Control wirkt wie ein vertrockneter Amtsleiter samt Strickjacke und Wassertopf auf der Heizung, um die Luft zu befeuchten. Nach den exotischen Schauplätzen und der Hightech-Zentrale eines James Bond, der ein Jahr zuvor erstmals auf der Leinwand einen Superschurken zur Strecke gebracht hatte, wirkte „der Circus“ weit realistischer, weil völlig unspektakulär. Bei Spionen geht es laut John le Carré genauso zu wie in anderen Büros, nur sind die Auswirkungen viel drastischer.

Da gibt es fähige und unfähige Kollegen, persönliche Animositäten und Pannen, die tunlichst vertuscht werden. Lieber lässt man einen Gegner entkommen, statt zu riskieren, dass die eigene Unfähigkeit durch ihn ans Licht kommt. In seinem Roman „Dame, König, As, Spion“ treibt der Autor das mit der bizarren Idee auf die Spitze, eine Weihnachtsfeier der Geheimdienstler zu beschreiben. Bei Punsch und Plätzchen machen die Büro-Agenten um Control munter weiter mit ihren Intrigen. Pausen kennen Spione nicht, sagt uns der Autor. Jeder Moment kann entscheidend sein, lieber Leser, pass also ganz genau auf.

Die frei erfundene Insider-Enthüllungsstory wird zum Bestseller

Da John le Carré 1963 Angehöriger des englischen Secret Service war, hatte sein erster Spionage-Thriller sofort den Ruf, die Wahrheit über die Welt der Geheimdienste zu beschreiben. Das hat er von Anfang an dementiert. Und damit genau das Gegenteil erreicht, wie er im lesenswerten Vorwort jener Ausgabe schreibt, die gerade zum 50. Jubiläum von „Der Spion, der aus der Kälte kam“ in neuer Übersetzung bei Ullstein erschienen ist.

Seine Dienstherren beim Secret Service hätten sein Buch nur abgesegnet, weil sie festgestellt hatten, dass es von vorne bis hinten frei erfunden gewesen sei, so John le Carré. „Das war jedoch nicht die Auffassung der Weltpresse, die meinen Roman einstimmig als authentisch, ja, mehr noch, als eine Art Insider-Enthüllungsstory feierte – so dass ich nur stillhalten und überwältigt zuschauen konnte, wie mein Buch an die Spitze der Bestsellerlisten kletterte und dort blieb, während ein Experte nach dem anderen es für echt befand.“

Ein Agent verlottert genau nach Plan

Die Geschichte, die John le Carré angeblich in nur fünf Tagen geschrieben hat, dreht sich um ein raffiniertes Täuschungsmanöver, mit dem ein ostdeutscher Meisterspion ausgeschaltet werden soll, der sämtliche Agentenringe des Secret Service in der „Ostzone“ ausradiert hat. Alec Leamas, der Chef des Dienstes in Berlin, wird daraufhin zu Control in die Zentrale zitiert. Alle im Circus wissen, dass dies nur eines bedeuten kann: das Ende seiner Karriere.

Tratsch als strategisches Mittel

Schon beginnt die Gerüchteküche in den Büros zu kochen. Leamas feuert sie an, indem er scheinbar als haltloser Säufer verlottert. Er strickt da schon vor Kollegen an seiner Legende, um später als Doppelagent glaubhaft zu erscheinen. Er wird gefeuert, steigt auf der sozialen Leiter ab, landet im Knast und wird schließlich von der Gegenseite kontaktiert, die den vermeintlich labilen Ex-Agenten umdrehen will. Alles ist mit wenigen Eingeweihten geplant und scheint wie am Schnürchen zu funktionieren. Dann aber wird Leamas plötzlich als Landesverräter gesucht und muss hinter den Eisernen Vorhang verschwinden.

Der Profi, der bisher souverän agierte, wird von Zweifeln gepackt: Steckt Control hinter dem Fahndungsaufruf? Was bezweckt er damit? Je näher er an seinen Gegner heranrückt, desto mehr stellt sich Leamas die Frage, inwiefern er noch das Heft in der Hand hält. In dem Geflecht von Wahrheiten, Halbwahrheiten und Unwahrheiten bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine Rolle des Verräters weiter glaubhaft zu spielen: die eines ausgebrannten Menschen, der er im Inneren tatsächlich ist, und der deshalb zu fürchten beginnt, allmählich in seiner Charade den Verstand zu verlieren.

Professionelles Lügen gefährdet den Verstand

Dieses professionelle Lügen und Täuschen, Taktieren und Einschätzen der anderen bezeichnet John le Carré als die Kälte, die dem Buch den Titel gab. Der Leser erlebt nahezu die gesamte Handlung aus Leamas’ Sicht und muss auf dessen Beurteilung der Situation vertrauen – die sich als fatal falsch entpuppt. Denn alle Professionalität schützt den Agenten nicht davor, in einem so raffiniert wie skrupellos eingefädelten Komplott benutzt zu werden.

Das halbe Jahrhundert seit seinem Erscheinen hat dem „Spion, der aus der Kälte kam“ nichts anhaben können. Die Geschichte ist zeitlos, sie dreht sich um menschliche Stärken, mehr aber noch um Schwächen. Es geht um Ehrgeiz, der im Mäntelchen der Ideologie daher kommt, um Karrieredenken und einen eklatanten Mangel an Werten.

Intelligente Katz-und-Maus-Spiele statt krachender Action

So bleibt Leamas seinem Kontrahenten, einem überzeugten Sozialisten, die Antwort schuldig, was ihn eigentlich bei seiner Arbeit antreibt, welcher Philosophie er und seinesgleichen folgen. Er weiß es nicht, hat sich bis dahin keine Gedanken darüber gemacht. Er macht seinen Job, weil es sein Job ist, bereits seit dem Zweiten Weltkrieg, als er sich in seiner Branche einen Namen gemacht hat. Den vermeintlichen Verräter mimt er hauptsächlich, weil er sich damit den Rest seiner nun fast gescheiterten Laufbahn sichern will. „Wir sind keine Marxisten, wir sind gar nichts. Einfach nur normale Menschen“, antwortet er schließlich. Eines weiß er, aber das betrifft nur die Gegenseite: „Ich denke einfach nur, dass ihr ein Haufen Dreckschweine seid.“

Ein Milieu, in dem der Zweck jedes Mittel heiligt

Auch in seinen folgenden Büchern setzte John le Carré auf intelligent verschachtelte Katz-und-Maus-Spiele und die Charakterzeichnung seiner Protagonisten statt auf krachende Action. Was seinen Ruf weiter nährte, er sei ein intimer Kenner der Welt der Spionage. Gar so weit von der Realität scheint er auch nicht gelegen zu haben, wie der bislang einzigartige Blick auf die Trümmer eines echten Geheimdienstes zeigt. Die offengelegten Akten der Stasi offenbarten die Perfidie einer so skrupellosen wie spießigen Machtbürokratie, die in ihrem Wahn, alles und jeden zu bespitzeln, keine Grenzen kannte. Wie der Circus von Control, in dem der Zweck jedes Mittel heiligt. Wobei dem Milieu ganz aus dem Blick geraten ist, was dieser Zweck eigentlich ist.

John le Carré: Der Spion, der aus der Kälte kam. Roman. Aus dem Englischen neu übersetzt von Sabine Roth. Ullstein, Berlin. 280 Seiten, 18 Euro. Auch als E-Book (14,95 Euro), Audiobook (19,99) oder Hörbuch-Download (13,95 Euro).