Vor 200 Jahren haben Pietisten den Ort gegründet. Er ist längst weltlich geworden, und der diakonische Gedanke der Gründungsväter strahlt weit über die Stadtgrenzen hinaus.

Korntal-Münchingen - Ist Korntal noch immer die pietistische Enklave, das heilige Korntal der Brüdergemeinde, ohne Bezug zur Umgebung? Schließlich ist noch immer mal distanziert, mal spöttisch vom „heiligen Korntal“ die Rede. Im Alltag spielt das allerdings kaum mehr eine Rolle, ob in der Kunst oder in den Äußerungen des Rathauschefs. „Ich sehe mich als Korntal-Münchingerin“, sagt etwa die Leiterin des Münchinger Heimatmuseums, Sabine Rathgeb. Sie konzipierte zum Jubiläum die Ausstellung „Korntal 1819 – 2019. Rückblicke & Einblicke“. Diese in Korntal zu zeigen war für Rathgeb selbstverständlich – obwohl es mangels Museums im größten Stadtteil zunächst schwer gewesen sei, einen geeigneten Ort zu finden.

 

Dass sich Einrichtungen ortsübergreifend verstehen – wie etwa Musik- und Volkshochschule – ist aber nicht selbstverständlich. „Es kommt darauf an, ob ein Verein traditionell im jeweiligen Ortsteil gewachsen ist oder sich neu gegründet hat“, sagt der Bürgermeister Joachim Wolf (parteilos). Selbst die Feuerwehr lehne ein gemeinsames Gerätehaus ab.

Aus Gegensätze wird eine Vielfalt

Gleichwohl vertritt Wolf seit jeher die Ansicht, dass Gegensätze Vielfalt bringen. Damit versucht er die Stadtteile zusammenzuführen. „Den Wert der anderen Ortsteile zu erkennen ist für die Gesamtstadt wichtig“, sagt Wolf. Inzwischen sei in vielen Köpfen angekommen, als Gewinn das zu verstehen, was Korntal und Münchingen voneinander unterscheide. „Viele Korntaler schätzen an Münchingen die Natur, die Münchinger kommen wegen der Veranstaltungen nach Korntal.“ Wolf weiß, dass er dabei immer als Vorbild vorangehen muss. Der Beschluss, die Stadt zu einer einheitlichen VVS-Tarifzone zu machen, sei ein Baustein von vielen.

Natürlich spüre man das „heilige Korntal“ nach wie vor, meint der Bürgermeister Wolf mit Blick auf die Brüdergemeinde, doch längst gebe es auch in Münchingen Kirchengemeinden. Und Korntal gelte zwar als städtischer als Münchingen, dort lebten jedoch aufgrund der Baugebiete viele städtisch orientierte Bürger. Zugleich sinke die Zahl der Landwirte.

Dass manch ein Münchinger neidisch auf Korntal blickt, darüber kann der Bürgermeister nur den Kopf schütteln. „Die Entwicklung der Stadtteile hängt von den Rahmenbedingungen ab“, sagt Wolf. In den ersten Jahren hätten sich die Fenster in Korntal geöffnet, doch in den nächsten Jahren schlage das Pendel in die andere Richtung: In Münchingen siedelt sich ein Vollsortimenter an, die Straßen werden saniert, die Sporthalle wird modernisiert.

Selbst die diakonischen Einrichtungen der Brüdergemeinde sind über die Orts- auch Kreisgrenzen in der Gesellschaft vernetzt. Dabei steht Veit-Michael Glatzle als Geschäftsführer der Diakonie längst einem mittelständischen Unternehmen mit 700 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 30 Millionen Euro vor. Man verfolge allerdings „keine aggressive Wachstumsstrategie“, sondern habe auch weiterhin ein „auf christlichen Werten basierendes Profil“, sagt er.

Kinder standen 1823 im Mittelpunkt

Die beiden Kinder- und Jugendheime beziehungsweise die ambulanten Hilfen für die junge Generation sind ebenso wie das Altenzentrum in die Planungen des Landkreises eingebunden. „Wir tragen das unternehmerische Risiko“, sagt Glatzle, die Diskussion über die kreisweiten Bedarfe seien letztlich Verhandlungssache. Zwischenzeitlich ist die Jugendhilfe in Vaihingen, Bietigheim-Bissingen, Markgröningen und Gerlingen präsent. Knapp 400 Personen – Kinder, Jugendliche, junge Familien, werden laut dem Gesamtleiter Joachim Friz derzeit betreut.

Kinder standen auch im Mittelpunkt der ersten diakonischen Einrichtung der Brüdergemeinde. 1823, wenige Jahre nach der Gründung der Gemeinde, entstand dort eine Kinderrettungsanstalt. Drei Jahre zuvor wurde die Alte Lateinschule aufgebaut, 1825 die Heimschule gegründet – sie ist heute die Johannes-Kullen-Schule, eine sonderpädagogische Einrichtung für Kinder, die in ihrer Entwicklung emotional und sozial geschwächt seien. Der Bedarf dafür nehme zu, sagt Friz – was die Kindergartenleiterin Gudrun Woschnitzok bestätigt.

Der Bedarf wächst auch bei der Betreuung von Senioren. Doch hier wie dort fehlen die Mitarbeiter. Esther Zimmermann leitet das Altenzentrum. „Wir versuchen da zu helfen, wo die Not am dringendsten ist“, sagt sie. Das kann auch mal bedeuten, dass ein todkranker, junger Mensch im Altenzentrum aufgenommen wird, etwa weil kein Platz in einem Hospiz frei ist.