Der Rabbiner Yehuda Pushkin wechselt von Esslingen nach Stuttgart. Der Chasside, Offizier und Lehrer ist ein großer Vertreter der Dialektik: Für ihn ist Gott da, wo es am dunkelsten – oder am hellsten ist. Je nachdem.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Stuttgart - Deutschland, das war für den Rabbiner Yehuda Pushkin die große Sache in den 2000er-Jahren: Da musste man hin, dort entwickelte sich das jüdische Leben weltweit am rasantesten.

 

Gehen ins Land der Täter?

„Ja gerade deswegen, verstehen Sie, genau deswegen musste ich da hin.“ Yehuda Pushkin gestikuliert, reckt die Arme in die Luft, lacht, lacht viel. Die Verwaltung der Israelitischen Religionsgemeinschaft in der Stuttgarter Hospitalstraße ist kein Ort der Kontemplation. Gerade wird neue Sicherheitstechnik eingebaut, die Mitarbeiter rennen, eine Baustelle lärmt, Boten bringen Pakete, eine Frau trägt Gebäck in einem Tortenbehälter, die Umgangssprache ist Russisch.

Der Rabbiner Yehuda Pushkin, 44, wechselt von Esslingen nach Stuttgart als Nachfolger von Netanel Wurmser. Er wird aber nicht der neue Landesrabbiner, denn die Israelitische Religionsgemeinschaft hat das Landesrabbinat abgeschafft. Er wird der Ortsrabbiner der Stuttgarter jüdischen Gemeinde. Für Esslingen wird zurzeit ein Nachfolger gesucht.

Ein Förderverein kämpfte um die Synagoge

Yehuda Pushkin hat auch in seiner siebenjährigen Tätigkeit als Rabbiner in Esslingen, keine Zeit für Kontemplation gehabt. Er betreute Juden in halb Baden-Württemberg von Heilbronn bis Ulm, von Aalen bis nach Weingarten. Zu erreichen war er allenfalls über das Handy. Er hielt Gottesdienste, versorgte Kranke und Sterbende, er predigte am Schabbat und an den jüdischen Feiertagen, er unterrichtete in den jüdischen Kindergärten.

Seine größte Leistung ist es, die jüdische Gemeinde Esslingen wieder gegründet zu haben. Eigentlich sollte er in Heilbronn stationiert werden. Doch er wollte in den Schnittpunkt seiner Reisestrecken ziehen und kam ins Remstal. Inzwischen ließ ein Förderverein in Esslingen nichts unversucht, die alte Synagoge der Stadt wieder zu dem zu machen, was sie einmal war. Ein symbolträchtiger Ort, wie kaum ein ander für das Judentum in Deutschland. Denn das mittelalterliche Fachwerkhaus war einst in die Hände der Hitlerjugend gefallen, erst 2012 wurde es wieder geweiht. Anfeindungen hat Pushkin nie erlebt, wohl aber sein Sohn in einer Esslinger Grundschule. „Mein Sohn hat sich gegen die Schläger gewehrt, er ist nicht traumatisiert“. Am nächsten Tag gab es eine Schulkonferenz, um dem Missstand abzuhelfen.

Er fischt den traditionellen Hemdzipfel aus dem Hosenbund. Als orthodoxer Jude zählt er sich zu den Chassidim, ist verpflichtet, die 613 Gebote des Judentums streng zu halten, „aber man kann ja nicht 24 Stunden daran denken. Wir Chassidim glauben, dass Gott in der Schöpfung ist und dass Gott größer ist als die Schöpfung, dass er ein Anderes ist.

Das Licht Gottes leuchtet am hellsten da, wo es dunkel ist.

Also einen Pantheismus, eine Einheit von Gott und Schöpfung?

„Das ist kein Pantheismus, wie ihn Baruch de Spinoza gelehrt hat. Wir glauben, dass es Stellen auf der Erde gibt, wo das Licht Gottes heller leuchtet und solche, wo es schwächer scheint.

Im Tempel Jerusalems leuchtet es also hell?

„Aber nein“, sagt er, „es leuchtet da besonders hell, wo es am dunkelsten ist.“

Äh?

„Ja, das ist ein wenig Dialektik“, er lacht wieder über diese entgegengesetzten Positionen im orthodoxen Judentum. Nun ja, Rabbiner zu sein, bedeutet Lehrer zu sein. Die Chassidim unterscheiden zwischen etwa 300 religiösen Strömungen. „Bei uns gibt es einen Witz“ sagt er, „wenn die Chassidim sich versammeln, dann chartet man für die Rabbis Reisebusse, für die Gläubigen reichen ein paar Fahrräder.“

Seine Familie überlebte den Zweiten Weltkrieg, weil sie hinter den Ural geflohen war. Sein Urgroßvater war Kommunist, sein Großvater kämpfte in der Roten Armee, sein Vater war Militärarzt und zog nach Petrosawodsk in Karelien. „Ich habe die Sowjetunion erlebt, ich habe die Perestroika erlebt und den Zerfall der UdSSR. In diesem Zerfall suchten die Menschen die Religion.“ Er fand den Chassidismus, die Christen, die Orthodoxe Kirche. „Sie ist jetzt die bestimmende Ideologie in Russland“, sagt er – aber nicht mehr für ihn. Zusammen mit seinem Vater wanderte er erst nach Peru aus und dann nach Israel. Es war auch eine Flucht vor dem Wehrdienst.

Orthodoxe Juden nehmen keine Waffen in die Hand?

„Aber nein“, sagt er und reckt stolz die Brust, „ich bin Offizier in der israelischen Armee. Vor der russischen Armee floh er, weil sie für ihn wie ein Gefängnis war mit körperlichen Misshandlungen.

Haben Sie Heimweh?

„Heimweh?“, wiederholt er und macht einen zweiten jüdischen Witz, „Heimweh nach wohin?“ Selbst Petrosawodsk, in dem er aufwuchs, hat sich so sehr verändert, dass er kaum wiedererkennen würde. Die rastlose Gemeinde in Stuttgart mit ihren fast 3000 Gemeindegliedern wird jetzt seine neue Heimat sein, vielleicht für ihn der erste Ruhepol seines Lebens.