Eine Frage, viele Antworten: Was bedeutet es, heute in Deutschland jüdisch zu sein? Erkundungen in einer Gemeinschaft, die nach Gemeinsamkeiten sucht.

Berlin - Wenn Esther Tchlakichvili einen wirklich jüdischen Ort in Berlin besuchen will, dann geht sie auf den Wochenmarkt in Schöneberg. „Die Farben, die Düfte, die Früchte, die Gewürze“, sagt sie. „All das erinnert mich an den Mahane-Yehuda-Markt in Jerusalem. Wunderbar!“ Esther kommt nicht aus Israel, sie war ein einziges Mal dort. Ihre Eltern stammen aus Moskau, sie selbst ist in Berlin aufgewachsen, spricht Deutsch und Russisch, aber fast kein Wort hebräisch. Der Sabbat ist für sie ein Samstag. „Ich bin nicht gläubig“, sagt die 22-Jährige. „Aber ich bin selbstverständlich jüdisch. Es ist mir sehr wichtig. Es macht mich aus.“ Typisch deutsch-jüdisch – so könnte man das Lebensgefühl benennen, das die Lehramtsstudentin beschreibt. Denn Esther repräsentiert die Mehrheit der etwa 250 000 deutschen und hier lebenden Juden: Mehr als 90 Prozent sind Einwanderer der ersten oder zweiten Generation aus der ehemaligen Sowjetunion, die meisten betrachten sich nicht als religiös, aber als jüdisch.

 

Nichts hat die jüdische Community hier in den letzten 25 Jahren so stark verändert wie der plötzliche Zuwachs aus dem Osten seit Anfang der 90er Jahre: Zu den etwa 30 000 Menschen jüdischen Glaubens, die nach der Schoah in der Bundesrepublik lebten, kamen binnen weniger Jahre mehr als 200 000 Einwanderer.

In Berlin leben die meisten Juden in Deutschland

Wie schafft man es, dass diese Gruppen zusammenwachsen? Das war lange eine unbeantwortete Frage. Eher nicht, muss man heute sagen. In diesem Realismus steckt eigentlich eine gute Nachricht: Denn die jüdische Gemeinschaft in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren so ausdifferenziert, blüht und entwickelt sich in so unterschiedliche Richtungen, wie es nach dem Holocaust nicht möglich schien. Nirgends zeigt sich das so stark wie in Berlin: Die meisten Juden in Deutschland leben hier, und inzwischen sind diejenigen, die in der jüdischen Dachgemeinde organisiert sind, eine Minderheit. Orthodoxe und liberale Gruppen haben sich gegründet, so genannte private Betergemeinschaften und Sabbatdinnerrunden haben sich organisiert, es gibt Studienzentren, Filmfestivals, Kitas, Partyreihen, Ballett- und Schachclubs – und natürlich einen Hype um die israelische Küche.

Der hat mit der größten Migrantengruppe zu tun. Auf zwischen 20 000 und 30 000 wird die Zahl der jungen Israelis geschätzt, die seit Anfang der Nullerjahre hauptsächlich nach Berlin gekommen sind. Die jungen Leute aus der Kreativszene kamen nicht, um zu bleiben – sondern um erst mal da zu sein: Die Hipster- und Partymetropole Berlin wurde in den vergangenen Jahren für viele Israelis zum entspannten, liberalen Sehnsuchtsort jenseits der politischen Dauerspannung des Nahostkonflikts und jenseits der hohen Lebenshaltungskosten, wie sie in Tel Aviv üblich sind. Berlin, das heißt günstig leben, feiern, malen, schreiben, Musik machen oder Unternehmen gründen – und: nicht über die Vergangenheit nachdenken.