Die Genderdebatte sorgt für Erregung und Häme. Das Junge Ensemble Stuttgart rüttelt an Geschlechterzuweisungen, die heute stärker zementiert scheinen denn je.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Manchmal werden die simpelsten Dinge zur Gewissensfrage: Darf man als Junge ein Überraschungsei essen, das „nur für Mädchen ist“? Wenn aber der erste Schulranzen gekauft werden muss, ist es klare Sache: Die Fußballmotive sind nur für Jungen, Mädchen sollten sich dagegen an Rosa, Glitzer und Glimmer halten – weil es so sein muss. Seit ein paar Jahren werden sogar Schnürsenkel „gegendert“, Unterhemden und Strümpfe lassen sich nicht mehr von der Tochter an den kleinen Bruder vererben. Selbst mit der Dose fürs Pausenbrot wird markiert, ob sie einen männlichen oder weiblichen Besitzer hat.

 

Der Blick in heutige Klassenzimmer verrät, wie stark normiert Kinder sein müssen, um nicht aufzufallen. Entsprechend könnten sich Bildungsplangegner das Demonstrieren eigentlich sparen, denn nie zuvor wurde so konsequent in fast allen Lebensbereichen nach Geschlechtern unterschieden wie heute.

Auch das Theater lebt von Rollenklischees, umso ungewöhnlicher ist es, dass das Junge Ensemble Stuttgart mit seiner neuen Produktion „entweder und“ nun doch ein wenig rüttelt nicht etwa an der Tatsache, dass es Mädchen und Jungen gibt, sondern dass damit nicht zwangsläufig ein umfassender Lebensentwurf verbunden sein muss. Deshalb ziehen sich die vier Schauspieler zu Beginn erst einmal um – und tragen alle rosafarbenen Klamotten. Auch die Männer.

„Der Cowboyhut ist nicht für Mädchen.“

„entweder oder“ ist eine Stückentwicklung unter der Regie von Hannah Biedermann und gedacht für Kinder von fünf Jahren an, die noch nichts von Gender gehört haben mögen, aber schon sehr genau wissen, welche der Objekte, die die Schauspieler auf der Drehbühne verteilen, für Mädchen oder Jungen vorgesehen sind: Hammer, E-Gitarre, Lippenstift, Modellflugzeug. „Das Auto ist nur was für Jungen“, singt die Musikerin Conni Trieder, „der Cowboyhut ist nicht für Mädchen.“ Da müssten eigentlich auch die Erwachsenen hellhörig werden, die gern mal Sätze sagen wie: „Für einen Jungen bist du ganz schön schmächtig“ oder „Du bist so eine Süße“.

Das Team hat eine lose Szenenfolge entwickelt, in der Klischees und Normierungen ad absurdum geführt und auch Begriffe wörtlich genommen oder konterkariert werden: tollpatschig, augenzwinkernd, schlagfertig. Die Schauspieler zeigen Muskeln in mackerhaften Posen oder pinkeln um die Wette, wobei Franziska Schmitz dabei gewinnt (weil sie eine Wasserflasche benutzt).

Die Kinder werden ihre Freude haben

„Ich mag’s halt heute so“, sagt Gerd Ritter, der in ein Ballkleid geschlüpft ist, „ist doch nix dabei“. Immer wieder versuchen die Schauspieler, Rollenvorstellungen zu sprengen und deutlich zu machen, welche Gewalt hinter Sätzen steckt wie: „Was bist du?“ oder „Das kann nicht sein, weil das nicht sein kann“.

Aber so, wie ja nicht mal alle Erwachsenen begreifen, dass die Genderdebatte nicht Geschlecht abschaffen will, sondern nur den Zwang, sich entsprechend verhalten zu müssen, so werden die Kinder vieles in diesem Stück ebenfalls nicht verstehen. Ihre Freude haben sie dennoch, und zwar am Theater selbst, am munteren, mitunter überdrehten Verkleidungsspiel, bei dem Holzrock, Teddybärkleid und allerhand eigenwillige Kostüme zum Einsatz kommen, die manchmal an Oskar Schlemmers Triadisches Ballett erinnern. Da trägt Sophia Maria Schroth plötzlich einen Verkehrskegel als Hut oder steckt Alexander Redwitz den Kopf in eine Kiste.

Und vielleicht kommen die großen wie kleinen Zuschauer ja doch ein bisschen entspannter und auch mutiger aus „entweder und“ – und verzichten bei der nächsten Gelegenheit auf Sätze wie: „Geh’ mal zum Friseur, zu siehst ja aus wie ein Mädchen!“