Inés de Castro, Direktorin des Linden-Museums, hält die Vielfalt einer Gesellschaft für bereichernd. Diese Mehrstimmigkeit spiegelt sich stärker als noch vor Jahrzehnten auch in den Völkerkundemuseen, die den Blick vermehrt auch auf die Gegenwart richten.

Stuttgart - Die Geschichte der Völkerkundemuseen in Deutschland hängt eng mit der Kolonialisierung der Länder in Afrika, Asien und der Südsee zusammen: Auswanderungswillige sollten sich auf das Leben in Übersee vorbereiten können. Nach mehr als hundert Jahren geht man mittlerweile einen anderen Weg. Beim Linden-Museum Stuttgart beispielsweise sind in Stuttgart lebende Menschen mit afrikanischen Wurzeln in die Vorbereitung einer neuen Dauerausstellung eingebunden.

 

Inés de Castro, die Direktorin des Linden-Museums, empfindet diesen anderen Blick auf, wie sie sagt, „in Anführungsstrichen fremde Kulturen“ als eine Bereicherung. Die Vielfalt einer Gesellschaft müsse sich in der Museumslandschaft spiegeln. Auch bei ihrer Mitarbeit als Mitglied der Jury für den Ehrenpreis „Stuttgarter des Jahres“, der von der Stuttgarter Versicherungsgruppe und der Stuttgarter Zeitung ausgelobt wird, hofft sie auf vielfältige Vorschläge.

Nachfahrin von portugiesischen Sepharden und Westfalen

Inés de Castro, im Jahr 1968 in Buenos Aires zur Welt gekommen, ist das dritte Kind deutscher Eltern. Ihr Vater war ein Nachfahre von jüdischen Sepharden aus Portugal, die sich 1680 in Hamburg niedergelassen hatten. Als Fünfjähriger war er mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten nach Argentinien geflohen. Die Mutter ist eine Westfälin, die nach der Trennung von ihrem Ehemann von Argentinien nach Paderborn gezogen ist, als die Tochter 13 Jahre alt war. So hat Inés de Castro sowohl die französische Schule in Buenos Aires als auch ein Gymnasium in Paderborn durchlaufen. Sie empfindet sich als Deutsche mit einer gemischten Identität.

Archäologie und Ethnologie

Die Eltern nahmen sie schon früh in Museen mit; als Kind las sie die typischen Kinder-Archäologie-Bücher. Und so reiste sie nach dem Abitur in die USA und nach Mexiko. Sie verliebte sich dort in die Maya-Kultur und studierte in Bonn Völkerkunde, wo ihre Ausbildung aus archäologischer Praxis ebenso wie aus ethnologischen Studien bestand.

Verliebt in die Kultur der Maya

Die junge Frau reiste viel, beteiligte sich an Ausgrabungen in Mexiko und promovierte über Aufstände der Maya gegen die mexikanische Obrigkeit im 19. Jahrhundert. Der Einstieg in die Museumsarbeit erfolgte mit einem Volontariat in München: Was zu der Zeit noch Völkerkundemuseum hieß, ist mittlerweile bekannt als Museum Fünf Kontinente.

2006 wechselte Inés de Castro ans Roemer- und Pelizaeus-Museum nach Hildesheim, wo sie zuletzt stellvertretende Leiterin war. Ihre Arbeit als Kuratorin dort war eher wissenschaftlich orientiert. Ihre Stellung als Direktorin des Linden-Museums (seit 2010) trägt sehr viel mehr administrative Züge. Vermisst sie das wissenschaftliche Arbeiten ein wenig? Das „Ja“ darauf kommt spontan, doch Inés de Castro kann sehr überzeugend darlegen, was sie an ihrer Stuttgarter Tätigkeit so spannend findet.

„Wir arbeiten seit etwa zehn Jahren in einer Zeit der großen Umwandlung“, erklärt sie. „Das Museum hat eine größere gesellschaftliche Relevanz bekommen.“ Die ethnische und religiöse Diversität der Gesellschaft sei so groß, dass nicht mehr nur „exotische“ Kulturen aus der Ferne beschrieben würden. „Wir sind weggekommen von der Unterscheidung zwischen ,wir‘ und ,die‘“, sagt Inés de Castro.

Aufgabe der alleinigen Deutungshoheit

Das heißt für die Praxis: mehr Kommunikation mit den Vertretern der Länder, aus denen die gezeigten Objekte stammen, und mehr Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort, die etwas über die Ausstellungsstücke erzählen können. Es geht dabei auch darum, einen Teil der alleinigen Deutungshoheit, die ein Stückweit noch mit der Kolonialzeit zu tun hat, aufzugeben. „Es geht uns darum, Mehrstimmigkeit im Museum zu zeigen, anderen eine Stimme zu geben“, sagt de Castro. Als Beispiel nennt die Direktorin die Recherchen für die neue Dauerausstellung zum Thema Afrika, deren Eröffnung Ende 2018 vorgesehen ist. Im Vorbereitungsgremium arbeiten Vertreter der afrikanischen Community in Stuttgart, wie Inés de Castro es nennt, mit und lassen ihre Sicht auf die Objekte einfließen.

Darüber hinaus ist das Linden-Museum beim Swich-Projekt vertreten, in dem zehn namhafte ethnografische Museen in Europa die Weichen für die Zukunft neu stellen. „Diese Herausforderung macht mir viel Freude“, sagt die Museumsleiterin.

„Es geht nicht mehr nur um den Blick zurück“

Auch die Erwartungen der Besucher hätten sich verändert: Ausstellungen werden mehr als noch vor Jahrzehnten designt, die Texte sind kürzer geworden, es wird Wert auf Begleitprogramme wie Theater oder Musik gelegt; die neuesten technologischen Entwicklungen haben auch die Museumslandschaft nachhaltig verändert. „Wir versuchen, die Gegenwart in die Ausstellungen einzubeziehen“, sagt die Museumsdirektorin. „Es geht nicht mehr nur um den Blick zurück.“

Neubau dringend erforderlich

Für die Zukunft allerdings wünscht sich Inés de Castro wie alle Mitarbeiter des Linden-Museums dringend einen Neubau. Das alte Gebäude platzt nicht nur aus allen Nähten, es scheint auch nahezu auseinanderzufallen.

Doch zunächst wird sich die Museumsleiterin mit der Auswahl der „Stuttgarter des Jahres“ zu beschäftigen haben. „Ich bewundere, dass das Ehrenamt in Stuttgart wie in ganz Baden-Württemberg eine so bemerkenswert große Rolle spielt“, sagt die Jurorin dazu anerkennend.