Seit fünf Jahren fährt der Kältebus, bei Temperaturen von minus 5 Grad oder niedriger, zwischen 22 und 2 Uhr öffentliche Orte an, an denen sich obdachlose Menschen befinden könnten. So auch in den letzten Nächten.

Stuttgart - Die Nächte im Kräherwald sind klirrend kalt in diesen Tagen, man friert bis auf die Knochen. Es liegt Glatteis auf den Pfaden. Das Licht einer Taschenlampe bewegt sich durch die Dunkelheit. „Wer irgendetwas sieht, schreit“, sagt Annette Fänger, ehrenamtliche Helferin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Gesucht wird ein dünnes Sommerzelt, mit Plastiktüten ummantelt, in dem der häufig verwirrte, 87-jährige obdachlose Herr J. seit 15 Jahren wohnt. Es schneit.

 

Fänger ist als eine von drei Helfern mit dem Kältebus des DRK Stuttgart unterwegs. Seit fünf Jahren fährt der Kältebus, bei Temperaturen von minus 5 Grad oder niedriger, zwischen 22 und 2 Uhr öffentliche Orte an, an denen sich obdachlose Menschen befinden könnten. Die Helfer bringen ihnen Schlafsäcke, Isomatten, heißen Tee und Snacks. Bei Bedarf rufen sie die Rettungshilfe an oder bringen die Obdachlosen, auf Wunsch, zu einer Notunterkunft. Seit Mittwoch sind sie wieder unterwegs.

„So blöd das klingen mag, Menschen, die auf der Straße wohnen, kommen schon gut klar“

Es ist schwierig einzuschätzen, wie viele Menschen in Stuttgart auf der Straße leben, weil sie ständig mobil sind. Laut Elisabeth Kopp, Leiterin der städtischen Wohnungsnotfallhilfe des Sozialamtes, dürften es etwa 150 sein. Die Notunterkünfte der Stadt bieten insgesamt circa 100 Schlafplätze an, und bei Bedarf könnten noch mehr bereitgestellt werden. Doch immer wieder gibt es Menschen, die sich weigern, dorthin zu gehen. „Manche haben Hunde, die in die Unterkunft nicht mit dürfen“, erklärt Fänger. Viele hätten auch Angst, dort beklaut zu werden oder Gewalt zu erleben. Herr J. gehört zu den Unterkunftsverweigerern. Als Annette Fänger die Wäscheklammer, die den Eingang zu seinem Zelt geschlossen hält, entfernt und hineinruft, versichert der alte Mann mit brüchiger Stimme: „Mir geht’s gut. Einwandfrei.“ Er hat sich ein warmes Nest im Winterwald gebaut. Doch Fänger besteht darauf, dass er einen Becher Tee, einige Snacks und einen neuen, warmen Schlafsack annimmt. Dann wünscht sie ihm eine gute Nacht und befestigt den kaputten Reißverschluss des Zeltes wieder. „So blöd es klingen mag, Menschen, die auf der Straße wohnen, kommen schon gut klar“, sagt sie. „Sie haben ihre Überlebensstrategien“. Diesmal war Herr J. ansprechbar. Das ist nicht immer der Fall.

Ein Bett aus einer Isomatte und ein paar dünnen Schlafsäcken

Wie schwierig es ist, ins Gespräch zu kommen, erleben die Helfer bei einem geschätzt 30-Jährigen, der in der Nähe der Marienstraße sein Bett aus einer alten Isomatte und einem paar dünnen Schlafsäcken gebaut hat. Während Fänger ihn anspricht, bleibt er eingewickelt und bewegungslos – auch während sie ein Stück der Decke hochhebt, um ihm ins Gesicht zu schauen. Dazu scheint er der deutschen Sprache nicht mächtig zu sein. Seine knappen Antworten auf alle Versuche, ihn anzusprechen, lauten meist nur „Danke“ oder „Alles gut“. Zuletzt auch „Entschuldigung“.

Die Helfer stellen einen Becher Tee neben seinen Kopf, legen eine neue Isomatte daneben, bedecken ihn mit einem Schlafsack. Mehr können sie nicht tun, so frustrierend es auch ist. „Viele Menschen wollen keinen Kontakt“, sagt Fänger. „Sie haben Angst.“ Doch bei Minus-Graden überwinden die Meisten ihre Abneigung. Der Kältebus findet in dieser Nacht niemanden mehr, der unter freiem Himmel schläft. „Das ist auch gut so“, sagt Fänger. Es bedeutet, dass sie an einem warmen Ort untergebracht sind.