Von der Wiege bis zur Bahre surreale Klage: Im Stuttgarter Schauspielhaus zeigt Lilja Rupprecht „Amerika“, ihre Adaption des Romans von Franz Kafka. Die Reise ins Herz der Finsternis verläuft holprig, wirft aber immerhin starke Bilder ab.

Stuttgart - Was normalerweise werdenden Vätern vorbehalten ist, darf im Schauspielhaus jetzt Krethi und Plethi tun: einer Geburt als Zuschauer beiwohnen. Auf dem transparenten Bühnenvorhang, der als riesige Videoleinwand dient, pocht in der Mitte ein rohes Herz, während sich von der Seite eine Fruchtblase ins Bild schiebt. Darin, kopfüber in Embryonalhaltung, der überreife, sechzehnjährige Karl Roßmann, der sich in Hemd und Hose mit Gewalt den Weg ins Freie boxt. Als erwachsener Fötus kickt er gegen die Eihaut, wühlt sich durch Schleim, zerfetzt die ihn umhüllende Haut – und endlich stürzt er nach pränataler Leinwandaction blutverschmiert in die Welt, die ausdrücklich die Neue Welt ist. Im Hafen von New York erlebt der von seinen Eltern aus Prag verstoßene Sohn eine Neugeburt, die in Stuttgart wörtlich genommen wird als bunt-psychedelisches Ultraschalltheater – mit vielen, vielen Apparaten für Sound & Light auch im weiteren Verlauf von Karls surrealer Reise von der Wiege bis zur Bahre.

 

Auf dem Programm steht „Amerika“ von Franz Kafka, der früheste seiner drei Romane, der wie die anderen – „Der Prozeß“ und das „Das Schloß“ – erst posthum erschienen ist. Der 1924 gestorbene Dichter beschreibt darin die Erfahrungen, die der keineswegs dumme, aber unbeirrt ans Gute im Menschen glaubende Karl im Land der unbegrenzten Möglichkeiten macht. Für ihn hält es, wie zum Hohn, nichts als Grenzen bereit. Wo immer es den Auswanderer hintreibt, bleibt er Außenseiter, sei’s als Neffe im Haus seines Onkels, als Liftboy im Hotel Occidental oder als Diener in der Wohnung der Sängerin Brunelda. Woran er scheitert, ist die Schlechtigkeit der Menschen, die Undurchschaubarkeit der Institutionen, die Laune des Schicksals – Widrigkeiten, die sich gegen ihn verbünden und zu jener Ausweglosigkeit führen, unter der auch Josef K. im „Prozess“ und der Landvermesser im „Schloss“ leiden. Man kennt den kafkaesken Grundton, der in „Amerika“ herrscht und den Takt vorgibt in Lilja Rupprechts hochgerüsteter Inszenierung.

Sorge um den Heizer

Dass ihre Videokunst beachtlich ist, zeigt sich nicht nur bei Karls Neugeburt, sondern auch bei seinen ersten Erlebnissen in New York. Aus dem Geburtskanal fällt er aufs Auswandererschiff der Amerika-Hamburg-Linie und, kaum hat es die Freiheitsstatue passiert, in die Kabine des Heizers, der sich vom Obermaschinisten ungerecht behandelt fühlt. In cooler Castorf-Manier lässt die dreiunddreißigjährige Regisseurin das noch immer nicht einsehbare Geschehen hinter dem Vorhang auf die Leinwand werfen, Gesichter in Großaufnahme, schwitzend und gehetzt vor allem dann, wenn der noch mit Blutschleim überzogene Embryo-Karl des Ferdinand Lehmann auf den Schiffskapitän trifft. Gerechtigkeit für den Heizer fordert er mit empörter Stimme – und zum ersten Mal erweist er sich als reiner Tor, der sein hehres Ziel verfehlt. In der Kapitänskajüte wartet nämlich sein reicher Onkel in Amerika, der in dem jungen Burschen unverhofft den Neffen erkennt. Im Wiedersehenstaumel vergisst der gute Karl, dem immer etwas dazwischen kommt, die Sorge um den Heizer.

So endet das erste Kapitel im Kafka-Roman. Und so endet nach einer Viertelstunde auch der von Gitarrensound kommentierte, sehr forcierte Video-Einsatz der Inszenierung, in der fortan dann live und leibhaftig fünf Schauspieler in Mehrfachrollen auftreten. Sie bewegen sich in einem Raum des düsteren Glamours: Hinter dem Dschungel finster glitzernder Lamettavorhänge dreht sich Anne Ehrlichs pechschwarze Revuebühne häufig im Kreis. Broadway, pervertiert: Die Neue Welt ist im Dauerdämmerlicht eine gespenstische, von bizarren Revue-Lemuren bewohnte ShowWelt, in der das Gute und Unschuldige keinen Platz hat. Karl bleibt heimatlos, hilflos, wehrlos draußen vor der Tür. Warum das zumindest bei Rupprecht so ist, ahnt man, als er auf seinem Passionsweg vors Lametta tritt und ins Publikum spricht.

Umgekehrte Vergewaltigung

Ferdinand Lehmann ändert seine Tonlage. Besonnen berichtet er als Karl von dem Skandal, der ihn bei den Eltern in Ungnade fallen ließ. In Prag hat er mit dem Dienstmädchen ein Kind gezeugt, deshalb wurde er fortgeschafft. Doch es war ein Zeugungsakt wider Willen. „Würgend umarmte sie meinen Hals“, reportiert der arme Kerl, „und während sie mich bat, sie zu entkleiden, entkleidete sie in Wirklichkeit mich“ – und als die Frau mit ihrer Hand zwischen seine Beine gefahren sei und ihren nackten Bauch an seinen Leib gedrückt habe, sei er von einer „entsetzlichen Hilfsbedürftigkeit“ ergriffen worden. Mehr sagt Karl nicht. Trotzdem ist klar, dass nicht er das Dienstmädchen missbraucht hat, sondern das Dienstmädchen ihn: ein an seinen Sohlen klebendes Ur-Erlebnis, das sich jetzt in Variationen durch die Inszenierung zieht. Dass Karl nicht handelt, sondern immer nur behandelt wird, ist bei der psychologisierenden Lilja Rupprecht die Folge eines sexuellen Traumas – und nicht, wie bei Kafka, die Grunderfahrung des Menschen in einer alptraumhaft eingerichteten Welt.

Rupprechts Sichtweise verkleinert den Roman. Sie entschärft seine Atmosphäre der latenten Bedrohung und verniedlicht die Revue-Lemuren zu Objekten eines psychiatrischen Kuriositätenkabinetts. Auch sonst neigt die Regisseurin zu medizinischen Diagnosen. Denn was das Publikum nicht weiß, weil es auch im Programmheft unterschlagen wird: In ihrer Dramenfassung ordnet sie jedes Kafka-Kapitel explizit Körperzonen und Körperfunktionen zu, etwa „Kopf/Hirn“, „Magen/Speiseröhre“, „Unterleib/Ausscheidung“. Das klingt strukturell apart, lässt sich auf der Bühne aber nur im Fall des „Mutterbauchs“, aus dem Karl schlüpft, plausibel nachvollziehen. Immerhin hilft die anatomische Gliederung beim Entschlüsseln der surrealen Kostüme von Christina Schmitt. In der Magenszene trägt die Oberköchin der Rahel Ohm keine Kochschürze, sondern einen grellweißen, bodenlangen Metzgermantel. Und als Sängerin Brunelda, der Verdauung zugeordnet, steckt sie in einem kackfarbenen, gut ausgepolsterten Trikot, das sie in einen Fleischberg verwandelt.

Nervös, fiebrig, elektrisch

Doch egal, in welch grotesker Verkleidung sie auftritt: Ohm lässt nicht ab vom rotzigen Berlinerisch, das auch Andreas Leupold in nölender Variante zu Gehör bringt. Selbst als Amerikaner reden die beiden Darsteller so wie immer in ihrem angestammten Kiez. Abgesehen von Ferdinand Lehmann, der sich als Karl Roßmann verausgabt und virtuos die Register wechselt, vermögen aber auch Manja Kuhl und Moritz Grove nicht zu überzeugen. Zur konzeptionellen Kurzsichtigkeit der Inszenierung gesellt sich also die spielerische Schwäche – und beides lässt sich auch durch die starken, mit Licht- und Videoprojektionen erzeugten Bilder nicht wettmachen, mit der Lilja Rupprecht ihre Reise ins Herz der Finsternis illustriert: Nackt und nicht mehr mit Blut, sondern mit Graberde verschmiert, setzt sie Karl am Ende dem nervösen, fiebrigen, elektrischen Amerika aus.

Kafkas Roman ist einer von insgesamt zehn, die in der laufenden Saison in Stuttgart auf die Bühne kommen. Viele dieser Prosa-Adaptionen sind entbehrlich. Dazu gehört „Amerika“ nicht. Allerdings erweist sich die Inszenierung, ähnlich wie bei Karl im Schiffsmutterbauch, als schwere Geburt: Man spürt noch die Wehen, mit der sie auf die Welt gekommen ist.