Die meisten schämen sich und verwenden viel Energie darauf, ihre Schwäche zu kaschieren. Fast eine Million Erwachsene in Baden-Württemberg sind funktionale Analphabeten. Weil die bisherigen Kurse nicht angenommen werden, hofft das Land nun auf die Betriebe.

Stuttgart - Schätzungsweise eine Million Baden-Württemberger zwischen 18 und 64 Jahren können nicht richtig schreiben und verstehen selbst kurze einfache Textzeilen nicht. Doch die wenigsten dieser funktionalen Analphabeten stellen sich ihrer Schwäche und versuchen sie zu beheben. Der Volkshochschulverband gibt an, er erreiche nur 0,1 Prozent der Betroffenen mit seinen Angeboten. Im Jahr kämen rund 900 Teilnehmer zu den rund 100 Kursen.

 

Dem will die Landesregierung abhelfen. Im Kontext der jüngst ausgerufenen Nationalen Dekade für Alphabetisierung startet das Kultusministerium nun eine Kampagne, die schwerpunktmäßig in Betrieben ansetzt.

Fast 60 Prozent der Betroffenen sind trotz ihres Mankos erwerbstätig, einen Schulabschluss haben sogar 80 Prozent. Diese Zahlen basieren auf einer Studie der Universität Hamburg, die den Analphabetismus in Deutschland erforscht hat und empirische Anhaltspunkte liefert, obwohl die Dunkelziffer hoch ist. Danach gelten mehr als 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung als funktionale Analphabeten.

Uwe Hück als Botschafter

Marion von Wartenberg, die SPD- Staatssekretärin im Kultusministerium, sucht nun Verbündete in den Betrieben. Uwe Hück, der medienwirksame Porsche-Betriebsratschef, wird als Botschafter für die Kampagne fungieren. Er sagt, „wir müssen die Menschen aus der sozialen Isolation holen. Man muss ihnen Mut machen“.

Zusammen mit den Betrieben ließen sich passgenaue Angebote finden, hofft von Wartenberg. Sie denkt daran, über das Lesen und Schreiben hinaus eine arbeitsmarktorientierte Grundbildung anzubieten. Die Kurse sollten möglichst während der Arbeitszeit und direkt in den Betrieben stattfinden, findet die Staatssekretärin. Betroffene könnten dabei auch Fachsprachen erlernen, Führerscheine für Maschinen erwerben oder den Umgang mit digitalen Werkzeugen üben.

Von Wartenberg setzt auf die Vertrauensleute in den Betrieben. Entscheidend für den Erfolg sei, „dass es gelingt, den Betroffenen die Angst vor einer Stigmatisierung zu nehmen“. Sie verweist darauf, dass die Unternehmen profitieren, wenn ihre Beschäftigten neue Fähigkeiten erwerben würden.

Zentrale Anlaufstelle geplant

Im Rahmen der Kampagne werde das Land auch eine neue Fachstelle für Alphabetisierung und Grundbildung einrichten, kündigte die Kultusstaatssekretärin an. Die zentrale Anlaufstelle entstehe in enger Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Weingarten, die sich schwerpunktmäßig mit Alphabetisierung befasst.

Das neue Kompetenzzentrum wird beim Volkshochschulverband angesiedelt. Zu den Aufgaben der Stelle gehört der Aufbau landesweiter und regionaler Netzwerke. Geplant ist auch, einen landesweiten Beirat mit Vertretern der wichtigsten Verbände zu etablieren.

Die Anlaufstelle wird mit rund 300 000 Euro aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF) gefördert. Es sind zwei Personalstellen vorgesehen. Eine davon wird laut von Wartenberg vom Land finanziert. Insgesamt stehen dem Land 1,2 Millionen Euro aus dem ESF-Programm zur Alphabetisierung und Grundbildung zur Verfügung. Damit werden zwölf Projekte in Baden-Württemberg finanziert.

Mit weiteren 100 000 Euro aus dem Landesprogramm Weiterbildung startet das Kultusministerium eine Werbekampagne zur Alphabetisierung. Es gelte, „das Thema aus der Peinlichkeitsecke herauszuholen“, erklärt Hermann Huba, der Direktor des Volkshochschulverbands.