Dem von den USA geführten Militärbündnis gelingt zwar ein entscheidender Schlag. Ankara fühlt sich aber dennoch bedroht.

Istanbul - Die Bilder sprechen für sich. Männer rasieren sich die Bärte ab, Frauen reißen sich die schwarzen Nikabs vom Leib und verbrennen sie auf der Straße. Nachdem die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) nach wochenlangen erbitterten Gefechten am Wochenende die Großstadt Manbidsch in Nordsyrien erobert hatten, zeigten die Einwohner, was sie vom vertriebenen Regime des Islamischen Staates (IS) halten. Vor Kameras und Mikrofonen schilderten sie das Leben im selbst ernannten Kalifat als einen menschenfeindlichen Albtraum. Viele tanzten vor Freude mit ihren Befreiern, weltweit wurde der Erfolg begrüßt. Nur im Nachbarland Türkei herrscht seither blankes Entsetzen. Denn Ankara betrachtet die siegreichen syrischen Kurden als Teil der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit als eine feindliche Macht.

 

Minenfallen werden entschärft

Die Befreier der 100 000-Einwohnerstadt Manbidsch gehören überwiegend den syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) an. Darunter sind viele weibliche Kämpfer. Sie haben im Rahmen der Operation mit Luftunterstützung der USA und Beteiligung amerikanischer sowie europäischer Spezialeinheiten seit dem Beginn der Offensive Ende Mai auch etwa 200 umliegende Dörfer erobert. Nach kurdischen Angaben wurden dabei 4180 IS-Kämpfer und 264 SDF-Angehörige getötet sowie 112 Dschihadisten gefangen genommen. Bei ihrem Abzug mit 500 Fahrzeugen in Richtung auf die Stadt Dscharablus an der türkischen Grenze führten die Terroristen am Wochenende zu ihrem Schutz rund 2000 Zivilisten als Geiseln mit, die inzwischen überwiegend frei gelassen worden sein sollen. Kurdische Spezialkräfte begannen damit, die zahlreichen Minenfallen zu entschärfen, die die Islamisten in Manbidsch hinterließen.

Tausende kehren wieder in die Stadt zurück

Tausende geflüchtete Bewohner, vorwiegend Araber, kehrten bereits in die Stadt zurück. Manbidsch liegt an einer strategisch wichtigen Straßenkreuzung zwischen der türkischen Grenze und der IS-Hauptstadt Rakka. Die Stadt stand seit zweieinhalb Jahren unter der Kontrolle des IS und galt als Sammelpunkt ausländischer Dschihadisten. Das selbst ernannte Kalifat nutzte Manbidsch als Drehkreuz für den Transport von Kämpfern und Nachschub aus der Türkei. Jetzt verfügen die Dschihadisten nur noch über eine Nebenstraße nach Süden, die über die etwa 60 Kilometer entfernte Stadt Al-Bab führt. Deshalb ist die Befreiung von Al-Bab das nächste Ziel der kurdisch-arabischen SDF-Streitkräfte, wie sie am Sonntag in Manbidsch erklärten. Die Kurden wollen Al-Bab von zwei Seiten angreifen und damit auch ihre Kantone im Osten mit dem bisher territorial getrennten Kanton Afrin im Westen vereinigen. Mit diesem Schritt würden sie ihre im März ausgerufene autonome Föderation „Rojava“ weiter festigen.

Ungünstiger Zeitpunkt für Ankara

Auch deshalb hat der Fall von Manbidsch das Nachbarland Türkei aufs Höchste alarmiert, denn die türkische Regierung betrachtet die Sieger von Manbidsch als Teil der Kurdenguerilla PKK, die auch in den USA und der EU als Terrororganisation gilt. Ankara befürchtet ein weiteres Übergreifen des kurdischen Unabhängigkeitsstrebens auf die Türkei, sollte in Syrien ein zweiter kurdischer Quasi-Staat neben dem Nordirak entstehen. Der kurdische Militärerfolg erwischt Ankara zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt nach dem gescheiterten Putschversuch von Teilen des Militärs am 15. Juli. Ein militärisches Eingreifen ist derzeit schwer vorstellbar, da die türkische Armee aufgrund der laufenden Massenverhaftungen rund 40 Prozent ihrer Führungsoffiziere und fast die Hälfte ihrer Kampfpiloten verloren hat. Tatsächlich reagierte die Regierung mit hilflos wirkenden Appellen an die amerikanische Schutzmacht der Kurden. Die Türkei erwarte, dass die Kurden sich wieder über den Euphrat nach Osten zurückzögen, erklärte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Montag. US-Präsident Obama persönlich habe den Rückzug versprochen. „Die USA müssen ihre Versprechen halten.“ Den Euphrat hatte Ankara vor einem Jahr zur „roten Linie“ für den Vormarsch der Kurden erklärt, ohne dass dies größere Folgen hatte. US-Verteidigungsminister Ash Carter gratulierte am Montag den Befreiern von Manbidsch und nannte die Eroberung der Stadt einen „bedeutenden Erfolg im Kampf gegen den IS“.