Nach mageren Jahren führt Teamchef Andreas Seidl die Formel-1-Mannschaft von McLaren wieder in die Erfolgsspur und kämpft um Platz drei in der Konstrukteurs-WM. Der Passauer verrät sein Erfolgsrezept.

Sport: Jürgen Kemmner (jük)

Istanbul/Stuttgart - Das Rennen in Monza, daran erinnert sich Andreas Seidl gerne. In diesem verrückten Grand Prix hätte McLaren fast den ersten Sieg gefeiert seitdem der Passauer als Teamchef des Traditionsrennstalles aus Woking die Verantwortung trägt. Im September kämpfte Carlos Sainz mit Pierre Gasly im Alpha Tauri um Platz eins, am Ende zog der Spanier den Kürzeren. „Das war keine Enttäuschung“, betont Seidl, „es war ein super Wochenende, an dem wir als Team 30 WM-Punkte eingefahren haben.“ Der Bayer hätte nichts dagegen, wenn McLaren beim Großen Preis der Türkei an diesem Sonntag (11.10 Uhr/RTL) im Istanbul-Park-Circuit wieder Zähler im zweistelligen Bereich sammelt. Die McLaren-Mission für 2020 heißt: Hinter den Branchenführern Mercedes und Red Bull den Titel „Best of the rest“ sichern. Der bringt zwar nicht so viel Geld und weniger Ruhm wie eine WM-Trophäe, doch die Nummer drei im Formel-1-Zirkus zu sein, hebt das Selbstwertgefühl gewaltig.

 

Selbstvertrauen wurde in den vergangenen Jahren nicht mit der Gießkanne über die McLaren-Mannschaft verteilt. Eher wurde es in homöopathischen Dosen verabreicht. Zwischen 2015 und 2018 belegte der Rennstall, der von 1984 bis 1993 zu den ersten Adressen zählte, in der Konstrukteurs-WM zweimal Platz sechs und zweimal Platz neun (Vorletzter!). Und das, obwohl der zweimalige Weltmeister Fernando Alonso ein Auto chauffierte, dabei aber sein Missfallen so derart brachial artikuliert hatte, wie man es nur Bierkutschern zutraut.

Andreas Seidl ist kein Harry Potter

Andreas Seidl ist frei von jeder Schuld, er wurde im Januar 2019 als Teamchef geholt, doch seit er am Kommandostand seine Befehle erteilt, zeigt die Trendnadel permanent nach oben. Die neuen Piloten Carlos Sainz und Lando Norris mischten vergangenes Jahr häufig im vorderen Drittel mit, was zu Platz vier in der Teamwertung reichte. In dieser Saison standen beide bereits einmal auf dem Podium, Sainz als Zweiter in Monza und Norris als Dritter beim Auftakt in Spielberg. Jetzt kämpft McLaren (134 Punkte) mit Renault (135) und Racing Point (134). „Das war so nicht zu erwarten“, räumt der Teamchef ein, „dass Ferrari da nicht mitmischt, ist überraschend. Und dass wir uns auf einer Stufe befinden mit dem Silberpfeil-Verschnitt von Racing Point ebenfalls nicht.“

Für Harry Potter ist Seidl zu alt, für Merlin fehlt ihm der weiße Bart und für Aladin die Wunderlampe. Es hat sowieso nichts mit Magie zu tun, warum McLaren sich von einem klapprigen Kleinwagen in eine fesche Limousine verwandelt hat – vielmehr mit Schweiß, Fachwissen, Überstunden und Teamwork. Mit der Ankunft von Seidl wehte ein frischer Wind durch die Werkhallen, in denen sich Geruch und Arbeitsethik der knorrigen Eminenz Ron Dennis lange gehalten hatten, auch wenn der 2017 vors Werktor gedrängt worden war. „Wichtig ist“, sagt Seidl, „dass wir alle Defizite zusammengetragen und offen diskutiert haben. Dann haben wir einen Plan ausgestellt, wie wir die Mängel abstellen.“ Ins Detail geht der 44-Jährige nicht, wie Zauberer bewahren auch Teamchefs ihre Geheimnisse. Für die Arbeitskultur spielt es eine große Rolle, dass nach Patzern niemand befürchten muss, einen Kopf kürzer gemacht zu werden. „Wir zeigen nach Fehlern nicht mit Fingern aufeinander. Es geht darum, richtige Schlüsse aus der Analyse zu ziehen und einen Lösungsweg aufzuzeigen“, sagt er, nur auf diesem Weg sei eine Gemeinschaft imstande, ihr Produkt stets zu verbessern. Und zwar Schritt für Schritt.

Der Erfolg schweißte die Truppe zusammen

Mit der Kultur der kollektiven Wertschätzung wehte eine euphorisierende Brise durchs Werk, „ich spüre, dass bei uns der Spirit herrscht, den man für große Aufgaben benötigt. Alle ziehen an einem Strang“, sagt Seidl. Mit den vorzeigbaren Ergebnissen steigt die Motivation der Mitarbeiter und deren Selbstvertrauen. So steckte die Rennmannschaft die psychischen wie physischen Belastungen der Triple-Header (drei Rennen in drei Wochen) zu Saisonbeginn lässig weg, auch die Corona-Beschränkungen, die nervigen Tests (Seidl wird seit Juli alle fünf Tage getestet), das Leben in der Formel-1-Blase und der positive Fall im Team in Melbourne führte McLaren nicht in eine Krise – sondern ließ die Truppe wachsen.

Mittlerweile glauben sie bei McLaren wieder daran, dass das Team irgendwann wieder um den Titel mitfahren kann, 2021 erhält das Auto einen Mercedes-Antrieb, 2022 soll ein neues Reglement größere Chancengleichheit ermöglichen. Andreas Seidl freut sich auf die Zukunft, unabhängig davon, ob McLaren dieses Jahr „Best of the rest“ wird oder nicht. „Ich bin happy“, sagt er, „ich mache das nicht an der Platzierung fest, sondern an der positiven Entwicklung. Ich sehe den Fortschritt.“