Immer wieder werden Moralvorstellungen an Kunst und Literatur exekutiert, oftmals per Schnellschuss. Dabei hilft das Nachdenken über die Grenzen des Erlaubten, die Dinge differenzierter zu betrachten.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Würde Caravaggio heute noch leben, könnte es gut sein, dass er Ärger bekäme. Er schaut auf das, was doch eigentlich verborgen gehört: zwischen die Beine eines Jungen. Der Knabe hat die Schenkel so unverschämt gespreizt, dass sich sein Pimmelchen kess dem Betrachter entgegenstreckt. Wegschauen ist unmöglich, die Komposition lenkt den Blick mit Diagonalen gezielt immer wieder aufs Genital. Wehe, wer Übles dabei denkt. Es ist doch Amor, der Gott der Liebe, den Caravaggio 1602 malte. Kein Knabe aus Fleisch und Blut, sondern eine mythologische Figur, geflügelt und nicht von dieser Welt. Aber ging der Maler tatsächlich voller Unschuld ans Werk? Wenn der Fall Edathy etwas zeigt, so vor allem große Unsicherheit. Wo soll man die Grenze ziehen zwischen natürlicher Darstellung von Nacktheit und Pornografie? Wo ist der Schutz von Kindern gefordert? Sollte man das Betrachten von Bildern nackter Kinder unter Strafe stellen? Oder nur den Handel?

 

Auch künstlerische Werke geraten bei dieser Debatte wieder ins Visier. Würde das Verbot von Kinderpornografie für die Kunst gelten, wären die Museen leerer. Die antiken Skulpturen junger Knaben hätten es schwer, die Putti oder die Darstellungen des nackten Ganymeds, den der geile Zeus raubte. Das Museum Folkwang hat kürzlich in vorauseilendem Gehorsam eine Ausstellung von Balthus abgesagt, der ein Mädchen immer wieder halb nackt und mit gespreizten Beinen fotografiert hat. Man wolle „ungewollte juristische Konsequenzen“ vermeiden, heißt es im Museum. Kunst und Literatur stoßen zwangsläufig in Grauzonen vor. Sie müssen es sogar. Ihre Qualität und Leistung ist schließlich, sich an Grenzen zu reiben, nicht nur formal, sondern oft auch inhaltlich. Kunst hinterfragt das Selbstverständliche, entwickelt ungekannte Ausdrucksformen und öffnet neue Perspektiven auf gesellschaftliche Phänomene. Das macht sie so interessant.

Der Umgang mit Körper und Sexualität ist dabei stets ein zentrales Thema. Zu allen Zeiten gab es entsprechende Bilder und Bücher, die gegen die herrschende Moral verstießen. Und jede Generation und Gesellschaft erregt sich über andere Aspekte. Sebald Beham wurde 1529 „vulgäre Gesinnung“ vorgeworfen – weil er Josef bei der Flucht vor Potiphars Frau mit einer beträchtlichen Erektion darstellte – während man im antiken Griechenland auf Vasenmalereien selbstverständlich Männer mit erigiertem Glied sieht, die Jünglingen ans Geschlecht fassen. Moralvorstellungen ändern sich – und damit die Grenzen dessen, was als darstellbar gilt. Manets „Olympia“ empörte nicht wegen ihrer Nacktheit, sondern weil hier eine Prostituierte den Betrachter direkt anschaut. Es gibt Zeiten, in denen die Schriften des Marquis de Sade salonfähig sind, und andere, in denen sich Debatten entzünden an Nabokovs „Lolita“ oder Arthur Schnitzlers „Reigen“.

Galerist unter Verdacht

Dass Kinder des Schutzes bedürfen, dass sie ernstzunehmende menschliche Wesen sind, ist ein moderner Gedanke. Wie dieser Schutz ausschauen muss, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. In den Siebzigern senkte man das Strafmaß für sexuellen Missbrauch, 2004 wurde es wieder angehoben. Die aktuellen Debatten zeigen, wie weit unsere Gesellschaft davon entfernt ist, das Thema in all seinen Facetten und Konsequenzen zu überblicken, um sich angemessen positionieren zu können.

So trifft die gegenwärtige Diskussion auf eine weitgehend unvorbereitete Gesellschaft, die entsprechend aufgeregt und hilflos reagiert. Während man aber der Übergriffe durch Priester und der Masse an Kinderpornografie im Internet kaum Herr wird, lassen sich Moralvorstellungen bei Kunst und Literatur vergleichsweise leicht exekutieren. In London sollte ein Galerist verhaftet werden wegen einer Fotografie von Annelies Strba, die ihre Tochter in der Badewanne aufgenommen hatte. 2007 geriet Elton John in die Schlagzeilen wegen eines beschlagnahmten Fotos von Nan Goldin. Auf „Klara and Edda belly-dancing“ liegt ein nacktes Mädchen am Boden mit zufällig gespreizten Beinen.

Auch die Kunst muss sich Fragen gefallen lassen. Aber man sollte sich nichts vormachen: Wer pädophile Neigungen hat, geht sicher nicht ins Museum oder liest Nabokovs „Lolita“. Denn auch wenn in Literatur und Kunst missbräuchliche Tendenzen stecken können oder heikle Dinge verhandelt werden, geht es nicht allein darum, sexuelle Lust zu wecken – wie bei kommerziellen Pornos. Die Werke sind in der Regel viel zu komplex, die Abgründe werden nicht unreflektiert bedient. Caravaggios Amor ist zwar ein Jüngling mit offensiv präsentiertem Glied, aber das Bild ist so schwer beladen mit jahrhundertealter Kultur- und Geistesgeschichte, dass es als Stimulans nur leidlich taugt.

Kunst ist eine Schule der Differenzierung

Solche Werke reflexhaft zu verbieten oder auch die Balthus-Ausstellung abzusagen ist das Dümmste, was man tun kann. Kunst ist eine Schule der Differenzierung. Sie arbeitet mit Widersprüchen, bewegt sich an Grenzen und lenkt den Fokus auf Reibungspunkte. Deshalb kann sie auch helfen, Werte greifbarer zu machen. Wenn man genau hinschaut bei Robert Mapplethorpes Fotografie „Rosie“ (1976), wird man zwar feststellen, dass unter dem Kleid die Scham der Dreijährigen herausblitzt, es deshalb aber noch längst kein Porno ist. Auch dann nicht, wenn es Betrachter geben mag, die das erregt.

Trotzdem muss man sorgfältig überlegen, ob man ein solches Foto im Schutzraum des Museums zeigt, auf einem Zeitschriftentitel oder gar riesenhaft vergrößert an der Bushaltestelle. Die Freiheit der Kunst ist ein wichtiges Gut, aber sie sollte nicht als Totschlagargument eingesetzt werden, weil das die kritische Auseinandersetzung eher verhindert. Nur wer genau hinschaut und sorgfältig liest, kann sich Argumente erarbeiten. Man braucht sie, auch um unterscheiden zu können, wo es um ernsthafte Auseinandersetzung geht und wo um PR-taugliche Provokation. Erst wenn die Argumente ausgetauscht sind, wird es nicht mehr zu so grotesken Überreaktionen kommen wie in Australien, wo ein Mann verurteilt wurde, weil bei ihm manipulierte Comicbilder der Simpsons-Kinder beim Sex gefunden wurden.