Der Eintritt ins Kino? Zu teuer. Urlaub? Unbezahlbar. Von Hartz IV zu leben bedeutet auch für Kinder sehr oft, zu verzichten. Eine betroffene Familie aus dem Rems-Murr-Kreis erzählt.

Leserredaktion : Kathrin Zinser (zin)

Rems-Murr-Kreis - Neugierig schaut Paul den Besuch aus großen blauen Augen an. Dann verzieht sich sein Mund zu einem strahlenden Lächeln. Paul ist ein aufgewecktes, fröhliches Kind. Mit seinen 14 Monaten ist er noch zu klein, um die Sorgen seiner Mutter Nadja (alle Namen geändert) zu verstehen. Anders als seine rund zehn Jahre ältere Schwester Sophie. Sie weiß, dass die Mutter jeden Einkauf genau planen muss und dass das Geld meistens nur für die günstigsten Produkte reicht.

 

Denn Nadja, Anfang 30, ist alleinerziehend und lebt mit ihren drei Kindern von Hartz IV. 2012,87 Euro stehen ihr jeden Monat zur Verfügung. Diese Summe setzt sich aus dem Kindergeld, dem Unterhaltsvorschuss und der Hartz-IV-Leistung zusammen. Nach Abzug aller Fixkosten, zu denen auch die Miete gehört, bleiben rund 700 Euro für Lebensmittel, Kleidung und andere Dinge des täglichen Bedarfs – für vier Personen. Im Rems-Murr-Kreis lebten im September 2018 (neuere Zahlen gibt es nicht) 6265 Kinder von staatlicher Unterstützung, „in einer Bedarfsgemeinschaft“, wie es in der Statistik heißt. Ihre Zahl ist jüngst gestiegen, was unter anderem mit dem Zuzug von Asylsuchenden zusammenhängt, wie die Bundesagentur für Arbeit erklärt.

Vier Euro sind viel Geld

Wie viele andere Jugendliche in ihrem Alter ist Sophie häufig auf Instagram unterwegs, wo sie Fotos von Körperpflegeprodukten einer bestimmten Marke postet, die dank einiger Internetstars derzeit sehr beliebt bei jungen Mädchen ist. „Ich fotografiere gerne“, sagt sie und zeigt einige der Aufnahmen, für die sie Duschgel, Badesalz oder Handcreme kreativ arrangiert und das Foto mit einer App bearbeitet. Die angesagte Bodylotion kostet knapp vier Euro. „Das können wir uns nicht oft leisten“, sagt Nadja. Deshalb hat ihre Tochter einige der Produkte zu Weihnachten bekommen. Wenn das Geld für eine Limited Edition gerade nicht reicht, ist das „schon doof“, gibt Sophie zu.

„Es ist sehr schwierig“, erklärt Nadja. Ein Satz, den sie oft sagt, wenn sie über ihre Situation spricht. „Es ist schon vorgekommen, dass nur noch fünf Euro übrig waren, aber der Monat noch zehn Tage hatte“, berichtet sie. Dann habe sie Hilfe bei Bekannten gesucht. „Doch das Geld muss ich ja wieder zurückzahlen.“ Daher ist es jedes Mal eine Katastrophe, wenn etwas kaputt geht. „Aber wenn man nur billige Sachen kaufen kann, gehen die eben auch schneller kaputt“, sagt Nadja. „Dabei passen die Kinder gut auf ihre Sachen auf.“

Die Mitschüler sollen nichts merken

„Es geht wirklich um die zehn oder 20 Euro, die für jemanden, der normal verdient, keine Rolle spielen“, betont Ines Pfeil-Bürkle, die Leiterin der Initiative Kinderreich Rems-Murr, die zum Deutschen Kinderschutzbund gehört und von Armut betroffene Familien unterstützt. Nadja und ihre Kinder erhalten seit gut zwei Jahren Hilfe von Kinderreich und konnten so etwa im Rahmen des Sommerferienprogramms in die Wilhelma und den Schwabenpark gehen – Unternehmungen, für die die Familie selbst kein Geld hat. „Dabei geht es auch darum, dass die Kinder in der Schule was erzählen können, wenn alle von ihren Ferienaktivitäten berichten“, erklärt Ines Pfeil-Bürkle.

Fragt man Sophie, ob ihr Leben so ist wie das anderer Kinder, überlegt sie kurz und sagt: „Das ist mir relativ egal.“ Ihre Mitschüler wissen nichts von der finanziellen Lage der Familie. „Wir achten schon darauf, dass man es nicht sieht“, sagt Nadja. „Die Leute glauben doch, alle Hartz-IV-Empfänger seien Raucher, Säufer und faul.“ Mit Freundinnen tauscht sich Sophie übers Handy aus, nach Hause einladen möchte sie sie nicht: „Keine Lust.“

Angst um die Mutter

Damit ihre beiden Töchter jeweils ein eigenes Zimmer haben können, schläft die Mutter auf dem Sofa im Wohnzimmer der kleinen Dreieinhalbzimmerwohnung, Pauls Gitterbett steht daneben. Auf einem Regal liegen einige Spielsachen. Wenn sie nicht für die Schule lernt, spielt Sophie gerne mit ihrem kleinen Bruder. In ihrer Klasse gehöre sie zu den Besten, berichtet ihre Mutter stolz. Biologie sei momentan ihr Lieblingsfach, erzählt Sophie. „Ich will mal Sanitäterin werden. Ärztin lieber nicht“, sagt sie. Ob ihr etwas fehlt? Sophie schweigt verlegen, zuckt die Schultern. „Na, du wünscht dir doch, dass wir mal in den Urlaub gehen können“, meint ihre Mutter. Nadja würde gerne mit den Kindern ans Meer fahren. „Aber das geht nicht“, sagt sie. Selbst für ein Eis im Sommer ist das Geld knapp. „Wenn die Kinder zwei Kugeln möchten, verzichte ich darauf, selbst eines zu essen.“

Dass Eltern zurückstecken, hat Ines Pfeil-Bürkle häufig erlebt. „In vielen Familien stehen die Kinder absolut im Vordergrund“, berichtet sie. Umgekehrt sei dem Nachwuchs bewusst, dass auch die Eltern unter der Situation leiden. „Psychisch bin ich echt kaputt“, sagt Nadja. Sie hat in ihrer Heimat Polen Gärtnerin gelernt, kam 2010 nach Deutschland, um für die Familie zu Hause Geld zu verdienen. Sophie und ihre jüngere Schwester blieben beim Vater. „Er hat Schulden gemacht, getrunken, die Kinder geschlagen. Da habe ich mich von ihm getrennt und die Mädchen hierher geholt.“ Sie hatte immer wieder Jobs, doch seit der Geburt von Paul ist es schwierig, Arbeit zu finden. „Ich habe alles versucht, habe Kurse gemacht. Ich würde gerne arbeiten.“

Doch nun ist Nadja abhängig vom Jobcenter, hat jeden Tag die Sorge, dass das Geld nicht reicht. Wenn ihre Kinder etwas sehen, was sie gerne hätten, muss sie sie oft vertrösten. „’Mama, aber wann?’ fragen sie mich. Die haben schon Träume“, sagt Nadja. Auf ihre Wünsche angesprochen, denkt Sophie lange nach. „Das muss man sich gut überlegen, damit man sich das Richtige wünscht.“ Dann fällt ihr etwas ein: „Dass Mama wieder ganz gesund wird“, sagt sie und beginnt zu weinen. Nadja muss bald operiert werden. „Mama wird wieder gesund“, beruhigt sie und drückt die Tochter an sich. Können die Kinder sie in der Klinik besuchen? Nadja seufzt. Fahrkarten sind teuer.