Indien scheint am Abfall zu ersticken, nur langsam setzt sich das Wiederverwerten durch. Gerade Elektronikschrott bringt Rupien, die Entsorgungsindustrie blüht langsam auf. Oftmals sind es Kinder, die als Müllpicker ihren Familien die Existenz sichern.

Neu-Delhi - Neu-Delhi ist eine dreckige Stadt. Eigentlich ist sie grün, mit Gärten und Bäumen reichlich gesegnet, aber auf jedes Blattgrün hat sich wie ein Film ein grauer Staubschleier gelegt. Abfall säumt die Straßen, eine Smog-Glocke hängt in der Luft. Auf sie war der Reisende vorbereitet, schon beim Anflug auf Delhi hatte der Pilot im Bericht über die Wetterlage mit etwas Ärger in der Stimme auf die Luftverschmutzung hingewiesen.

 

Am Fuß der großen Mülldeponie Ghazipur am Stadtrand von Delhi liegt ein Armeleuteviertel. Kleinbauern und Handwerker wohnen hier, eine freundliche Gegend. Ochsenkarren, schlafende Hunde und Myriaden von Fliegen prägen das Bild. Ob sie von den in den Gassen stehenden Kühen oder dem Müllberg stammen, das sei dahingestellt. Plötzlich eine kleine Aufregung: ein Mitglied der deutschen Besuchergruppe läuft über eine Wiese – und versinkt knietief in stinkendem Sumpf. Das Gras schwimmt wie ein Deckel über der Kloake. Kinder eilen herbei, bringen einen Eimer mit frischem Wasser, helfen dem Opfer bei der Reinigung. Wie gesagt, ein freundliches Viertel.

Neben der Deponie gibt es eine Schule für die Müll-Sammler. Foto: EPA

Dieter Mutz von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) führt den Weg hinauf auf die 80 Meter hohe Mülldeponie. Es ist ein knöcheltiefes Waten in weichem Abfall, ein Wandern in einer stinkenden, rauchenden Mondlandschaft, zwölf Hektar umfassend. Würde der Blick nicht hinuntergehen auf die nahen Hütten von Ghazipur und die Skyline von Neu-Delhi in der Ferne, der Betrachter könnte glauben, die Apokalypse habe bereits stattgefunden und die Welt sei ein Trümmerfeld. Voll beladene Lastwagen keuchen den Berg hinauf, ihre Fahrer tragen Mundschutz, auf der Ladefläche sitzen Kinder als blinde Passagiere. „Neu-Delhi hat ein gravierendes Abfallproblem“, sagt Dieter Mutz. „Überall“ werde der Müll gelagert. Nur eine Minderheit der Bürger, etwa 15 Prozent, sei an ein Sammelsystem angeschlossen. Die große Masse entsorge „auf ihre eigene Art“, sagt Mutz. Täglich fallen 10 000 Tonnen Abfall an in der 17-Millionen-Metropole Delhi, in dessen Großraum 36 Millionen Menschen leben. Aber es gibt nur drei Deponien und eine Müllverbrennungsanlage. Eine zweite ist im Bau.

Indien ist viertstärkster Luftverschmutzer

Indien ist dichter besiedelt als Deutschland. Es zählt 1,2 Milliarden Menschen – ein Fünftel der Weltbevölkerung. Aber sein Reichtum an Natur ist begrenzt. Es verfügt nur über 2,5 Prozent der globalen natürlichen Ressourcen wie Böden und Wasser. Alles ist knapp, auch Deponiefläche. Drei Prozent der Treibhausgasemissionen Indiens – das Land ist weltweit der viertstärkste Luftverschmutzer – gehen auf das Konto schlechter Müllentsorgung, sagt der indische Umweltverband Chintan. Schuld daran sei das Verbrennen und das Entweichen von Methan aus wilden Müllkippen.

Oben auf der Deponie von Ghazipur laufen Mädchen und Jungen getrennt hinter Bulldozern her, die den Abfall schreddern. „Einmal habe ich 700 Rupien gefunden, einmal 1000!“ sagt der elfjährige Sahin. Geld zu finden – in diesem Fall umgerechnet acht beziehungsweise zwölf Euro – das ist ein Glücksfall.

Delhi ist von Slum-Gürteln umfasst. Foto: Link

Sahin ist einer der 1800 Müllpicker von Ghazipur. Von morgens bis abends streift er über die Deponie, sammelt Plastik, Flaschen, Drähte, Metall, Textilfasern. „Haare bringen viel Geld. Für ein Kilo bekomme ich 2000 Rupien“, sagt Sahin. Daraus werden Perücken gemacht. Sein Sammelgut verkauft Sahin auf dem Markt. Es sichert ihm, den Eltern und seinen beiden Schwestern täglich drei bis vier Euro – ein besserer Verdienst als in West-Bengalen, wo seine Familie herkommt. In Ghazipur existiert eine Schule für die Müllkinder. Sahin war noch nie dort: „Ich weiß gar nicht, was eine Schule ist.“ Er habe genug zu essen, drei Mahlzeiten täglich, sagt er. Manchmal rennen die Jungen auf der Rampe zum Müllberg um die Wette, eine Staubfahne hinter sich herziehend.

Dieter Mutz ist stolz auf die mit dem Knowhow der GIZ angelegte Deponie. Ein Teil ist bereits eingezäunt, mit Abluftrohren versehen, abgedeckt und begrünt. Nur einen Schwelbrand fürchtet Mutz: „Wir hatten eine brennende Deponie im Jemen. Die kriegt man nicht unter Kontrolle, die muss man umgraben.“

Dorthin, wo schon anderer Müll liegt

Andere Stadt, anderer Müll: Bangalore, drei Flugstunden südlich von Neu-Delhi, gilt wegen seiner Computerindustrie als das Silicon Valley Indiens. Auf seinen verstopften Straßen ist die goldene Seite des Landes zu sehen – auch BMW, Mercedes und Porsche. Auf dem Weg zur Entsorgungsfirma E-Paraisara, 50 Kilometer außerhalb von Bangalore, wird einem die alltägliche Entsorgung kurz vor Augen geführt: Ein Motorradfahrer stoppt am helllichten Tag am Highway, nimmt einen Sack mit Abfall vom Sozius und schmeißt ihn in die freie Landschaft. Dorthin, wo schon Müll herumliegt.

Aber in der Fabrik von Peethambaram Parathasaraty im Industriegebiet von Dabbasapete geht alles geordnet zu. Sie gilt als Vorzeigebetrieb mit sehr guten Bedingungen. Die Arbeiter können in der Pause unter Lotusblüten im Garten der Firma sitzen. Parathasaraty ist ein Mann mit silbergrauem Haar und ein Pionier der Entsorgungswirtschaft. Vor neun Jahren begann er damit, elektronischen Schrott zu recyceln. „Damals gab es dafür noch keine Regeln in Indien“, sagt er. Heute verlangt der Staat von der Industrie ein Entsorgungskonzept. In einer Halle sitzen 100 Arbeiterinnen mit Mundschutz und schrauben Handys und Computer auseinander. „Nicht spucken“, mahnt ein Schild. Samsung, Acer, Dell, Toshiba – alle Marken der Welt sind dabei. Kupfer, Aluminium, Gold, Palladium und Silber werden aussortiert und verwertet. Nur um Indium, ein seltenes Metall, das für Flachbildschirme und Touchscreens gebraucht wird, aus dem Schrott herauszuholen gibt es noch keine Technik. Parathasaraty wartet darauf.

Der Löwenanteil der Computer wird auf der Straße zerlegt

Die Arbeiterin Hemavathi, mit 32 Jahren schon Witwe, sagt, sie arbeite gerne hier. Sie verdiene 53 Euro im Monat. Früher sei sie Hausmädchen gewesen. Jetzt reiche das Geld für sie und ihre beiden Kinder. Einen Gaskocher, einen Kühlschrank und ein Handy habe sie sich gekauft. Wegen der steigenden Rohstoffpreise seien die Preise für Elektronikschrott angezogen, sagt Parathasaraty. „Sie finden in Indien keine Müllkippe mehr für Elektronikschrott. Früher hatten wir 100 davon. Heute wird 100 Prozent des Mülls recycelt.“

Die Menschen überleben – mehr nicht. Foto: Link

Noch wird der Löwenanteil der Computer nicht industriell, sondern von freien Handwerkern auf der Straße auseinandergenommen – unter gefährlichen Bedingungen. Ein Dutzend der „Informellen“ haben sich zusammengetan und Betriebe angemeldet. Das Geschäft mit der Entsorgung blüht. 180 Firmen sollen im Bundesstaat Karnataka, wo Bangalore liegt, darin tätig sein. Karnataka hat eine eigene Sondermülldeponie errichtet, in der Klärschlämme und nicht verwertbare Industrieabfälle nach europäischem Standard gelagert werden. Der gelernte Chemiker Parathasaraty hat neue Ideen: „Ich plane einen Entsorgungspark, wo wir Autos, Verpackungen und Kühlschränke recyceln.“ In China und Japan habe er so etwas gesehen.